St.Pauli mal ganz nüchtern (mit Fortsetzung)

Wir – das waren Hans, ein Berufskollege von mir, Assi, ein Praktikant, den wir noch in unserer Obhut hatten, und ich als Fahrer – waren auf der Rückreise von einer Dienstfahrt nach Belgien. Durch den zunächst nicht geplanten nachmittäglichen Besuch eines Kunden in der Nähe von Antwerpen hatte sich die Rückfahrt bis in die frühen Abendstunden verschoben, so daß wir insgesamt einen anstrengenden Tag hinter uns hatten. Irgendwo im Münsterland schien eine kurze Pause vonnöten, und erst gegen zwei Uhr nachts – es kann auch später gewesen sein – erreichten wir die heimatlichen Gefilde. Jetzt nur noch quer durch Hamburg, und wir waren endlich da, wo man eventuell schon auf uns wartete. Damals in den 70ern führte der Weg von Süd nach Nord noch über die Neuen Elbbrücken, Amsinckstraße, Ost-West-Straße usw. In Nähe des Heiligengeistfeldes meinte Hans :“Wollen wir uns nicht noch schnell mal die Beine vertreten? Nur ganz kurz, man wird ja allmählich steif im Auto!“ Es war ja klar, wohin er wollte, die Reeperbahn war ja gleich nebenan. „Aber nicht noch irgendwo rein, ich will nämlich bald nach Hause!“ „Nein, nur mal kucken!“
Na gut, etwas frische Luft konnte ja nicht schaden nach der langen Fahrt.
Auf der Reeperbahn war wenig los. „Laß uns mal zur Großen Freiheit, da ist bestimmt noch Betrieb!“
Also „Große Freiheit“. Dort war der große Andrang zwar schon vorbei, aber einige Vergnügungssüchtige konnten immer noch nicht nach Hause finden, was sie auch lauthals kundtaten. Der Türsteher an dem ersten Nachtlokal hatte die Augen schon halbwegs geschlossen. Er war anscheinend auch müde, , wurde jedoch recht munter, als wir zielstrebig auf den Eingang zu seinem Etablissement zusteuerten. Mir fiel auf, daß er uns ausgesprochen freundlich begrüßte und dabei leichte Nervosität zeigte.
Da sich drinnen nicht recht was mehr tat, waren wir nach ein paar Minuten wieder draußen und nahmen die Schaukästen des nächsten Hauses in Augenschein. „Guten Abend die Herren, hier auch mal rein schauen? Bitte die rote Tür und dann gleich links!“ Wieder dieser freundliche Ton des Türstehers! Hans und Assi gingen vorauf, und ich hielt mich noch einen Moment in der Nähe der besagten roten Tür auf. Der Türsteher, der uns bis dahin begleitete, hatte es anschließend sehr eilig, wieder nach draußen zu kommen.
– Und dann kam die Lösung: er legte beide Hände zu einem Trichter geformt an den Mund und rief mit unterdrückter Stimme seinem Kollegen von gegenüber zu: „Vorsicht! Die Sitte! Weitersagen!“
Damit war klar: man hielt uns für die Sittenpolizei, die auf St. Pauli bekanntlich ab und zu mal nach dem Rechten sieht. Im Halbdunkel des Lokals flüsterte ich den beiden Kollegen die Neuigkeit ins Ohr..„Na,“ meinte Hans „mit deiner Schiebermütze siehst du auch aus wie ein Kriminaler!“ Ich konterte: „ Und du würdest mit deinem Trenchcoat und dem kleinen Hut glatt als Sherlock Holmes durchgehen, wenn es den noch gäbe!“ Verhaltenes Gekicher. Die Sachlage war für uns recht neu und auch überraschend. Aber andererseits auch verständlich: drei mehr oder weniger junge Männer nachts um drei vollkommen nüchtern auf der „Großen Freiheit“, die dann auch noch ohne große Aufforderung die Etablissements betreten, die konnten nur von der Polizei sein.
Tat sich nur die Frage auf: sollten wir uns jetzt zu erkennen geben oder uns einfach auf das angefangene Spielchen einlassen? Letzteres schien die interessantere Alternative zu sein. „Wenn wir das wollen, dann muß ich aber um einen streng dienstlichen Gesichtsausdruck bitten!“
Der Türsteher verabschiedete uns mit einer leicht angedeuteten Verbeugung. Am nächsten Schaukasten war uns nicht mehr ganz wohl in der Haut, denn aus den Augenwinkeln und auch als Spiegelbild im Schaukasten bemerkten wir, daß man uns ständig beobachtete. Uns war klar, wenn der Schwindel aufgedeckt würde, dann war uns die Ungnade der Animateure sicher, und diese konnte uns schlimmstenfalls sogar eine Tracht Prügel einbringen. Sollten wir vielleicht doch ...? Ach was, Angriff ist die beste Verteidigung, sagt das Sprichwort. Wir überquerten ziemlich forsch die Straße und gingen direkt auf das Lokal zu, vor dem mehrere Türsteher bislang eifrig diskutiert hatten.
Einer aus der Innung kam uns entgegen: „-Nabend, die Herren von der Sitte, hier auch mal nach dem Rechten sehen?“ Wir nickten kurz und waren im nächsten Moment hinter der angewiesenen Tür verschwunden. Unser bisheriger Auftritt mußte also überzeugend gewesen sein.
(Fortsetzung folgt)

Ähnliche Beiträge

Kommentare

Verstoß melden

Schließen