Flucht aus der Einsamkeit

Flucht aus der Einsamkeit (Saskia777)

Sie hat es gewagt. Tatsächlich, sie hatte es gewagt.

Sie hatte die Angst und die Hemmungen unterdrückt, und nun saß sie im Zug, der sie seiner Heimat näherbrachte.Ihr ging es nicht gut. Sie war weder voller Vorfreude, dazu hatte sie auch keinen Grund, noch war ihr bei dem Gedanken wohl, ihm nachzufahren. Denn sie konnte es drehen und wenden, wie sie es wollte, es war nicht ganz von der Hand zu weisen.

Seit vier Wochen hatte er nicht mehr geantwortet. An jedem Tag hatte sie nach Post von ihm Ausschau gehalten. Meldete der Computer, sie haben Post, waren es immer nur Dinge, die sie zum Teufel wünschte.

Sie versuchte, sich mit dem Gedanken an den Auftrag einer kleinen, hiesigen Lokalzeitung, eine kleine, bebilderte Reportage über drei Städte in Ost - Thüringen zu schreiben, darüber hinwegzutäuschen, daß sie ihn gerne einmal gesehen hätte.

Im Internet hatte sie sich eine Stadtkarte ausgedruckt und versucht, eine preiswerte Unterkunft zu finden. Hotels und Gaststätten, Ferienwohnungen außerhalb, kamen nicht in Frage. Also Privatzimmer. Sie klickte den ersten Namen an. Der Preis, war für sie akzeptabel. Sie vergrößerte die Stadtkarte und konnte es nicht fassen, das Quartier lag in einer Hauptstrasse, und die nächstliegende Nebenstrasse, war die Strasse, in der er wohnte.

Welcher Heilige mag wohl für das Gelingen zufälliger Zusammentreffen zuständig sein, fragte sie sich?Eines wusste sie ganz sicher, sie würde ihn weder anrufen, noch an seiner Tür schellen. Es käme ihr wie Einbruch vor.

Aber eine zufällige Begegnung? Auf dem Markt vielleicht oder beim Brötchenholen? Oder, wenn sie ihrer Aufgabe zu photographieren und zu notieren nachging? Vielleicht bei der Besichtigung einer Ausstellung?

Sie überlegte, ob sie an der nächsten Station aussteigen und wieder zurückfahren sollte.

Und die Reportage? Sollte sie - sollte sie nicht; wer würde sie schon lesen, wen würde sie überhaupt interessieren?

Ihre Kinder waren im Urlaub. Weit und breit, würde sie niemand vermissen.Wie herrlich waren doch dagegen die Zeiten gewesen, wo sie keine Zeit zum Grübeln, sondern nur an die zu erledigenden Pflichten des nächsten Tages zu denken hatte und abends totmüde in`s Bett fiel; kaum, daß sie einige Seiten in ihrem Buch gelesen hatte.

Waren die Zeiten wirklich so herrlich gewesen? Nein, nicht immer.Der Hang ihres Mannes zum Zynismus, hatten ihr schwer zu schaffen gemacht. Nach außen ein charmanter, hilfsbereiter Mann, innerhalb der Familie ein Despot; wie sein Vater, wie sein Großvater.

Unstimmigkeiten, waren eigentlich nur wegen der Kinder entstanden. Die Erziehung beider Partner war grundverschieden gewesen und er wollte unter allen Umständen die Tradition der Väter durchsetzen.

Ihre, war freier gewesen. Zwar war die Mutter sehr streng, doch der Vater war ein fröhlicher, mit dem Leben, trotz zweier Weltkriege und mehreren Verwundungen, zufriedener Mensch gewesen. Vieles hatte sie von ihm; aber sie kann und will es nicht leugnen, auch von ihrer Mutter.Kniff der Vater zwinkernd ein Auge zu und ließ ab und an fünfe gerade sein, drängte sie auf absolute Korrektheit und Aufrichtigkeit.Ein Blick von ihr genügte. Lange, sind sie schon begraben.

Ich musste raus aus dieser Provinz, rechtfertigte sie sich.Muß neue Eindrücke gewinnen, muß andere Gesichter sehen.Wie soll ich schreiben, ohne neue Eindrücke zu gewinnen?Ich will mit den Menschen aus dieser Region sprechen.Ihre Mentalität kennenlernen.

Man spricht immer von den "Neuen Bundesländern, " manchmal wird vergessen, daß das Land der Thüringer ältestes, Siedlungsgebiet vieler Stämme war. Kelten, Hermunduren, Sweben, Semnonen, Herminonen, gehörten zu den Elbgermanen.die Hermunduren hatten eine besondere Stellung bei den Elbgermanen und trieben Handel bis in den Donauraum.Schon um das 1. Jahrhundert hatten die Thüringer ein eigenes Königreich und später eine sehr wechselvolle Geschichte.

Als sie am letzten Abend, vor ihrer Reise, bei weit geöffnetem Fenster die letzte Post beantwortete, schrie ein Käuzchen durch die Nacht. Früher hatte ihre Mutter gesagt: dann stirbt jemand und manchmal war das sogar eingetroffen.Es stirbt immer jemand, irgendwo.

Ich will leben, dachte sie, will, nicht schon halb tot, an dem alltäglichen Trott ersticken. Die Anfrage kam ihr gerade recht.Würde sie es schaffen, einen interessanten Beitrag zu schreiben?Sie würde ihr Bestes geben, das hatte sie sich vorgenommen.Bilder photographieren, die nicht alltäglich waren, die eine eigene Sprache sprachen.

Erste Station würde Erfurt sein.
Sie würde die Stufen zu dem Dom wieder hinaufsteigen, wie vor 15 Jahren.Würde ehrfurchtsvoll die Statue betrachten, die mit unbeweglichem Gesicht, das Licht des Glaubens durch die Jahrhunderte trägt.Vielleicht sogar das Geläute der großen Glocke "Gloriosa " hören.

Die Krämerbrücke, eine steinerne 6-Bogenbrücke beidseitig mit 34 Wohn-und Handelshäusern bebaut, würde sie wiedersehen.Ob die Web - Künstlerin in ihrem kleinen Atelier ihren kunstvollen Riesenteppich gut verkaufen konnte? Einige Zeit hatte sie ihr zugeschaut, wie unter ihren Händen Motive und Farben wechselten.

Die zweite Station: Weimar.
Auch hier war sie vor Jahren mit ihrem Mann durch die Straßen gegangen.Sie hatten das Theater von innen besichtigt, Bühnenarbeiter erklärten ihnen bereitwillig die Restaurationsarbeiten. Überall roch es nach Staub.Sie waren in Goethes Haus und Garten gewesen. Unvergessliche Momente.Sie wird Weimar kaum wiedererkenn. Es wird sich verändert haben.Aber Goethe und Schiller stehen immer noch vor ihrem Theater, das ist gewiß.

3. Station?
Sie weiß es noch nicht. Die Wahl wurde ihr freigestellt. Jena, Stadtroda, Gera?
Vielleicht hat sie auch tatsächlich in Kassel kehrt gemacht.
Wer weiß?

Eine Geschichte von: Saskia777

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