Zeus

Zeus

Zeus nannten sie meinen Bruder. Er war der erste in der Klasse ohne danach zu streben.  Was er las oder hörte, blieb ihm im Gedächtnis haften. Vokabeln, die ich pauken musste, wusste er durch das Lesen eines Textes. Er war ein konzentrierter Arbeiter. Fingen wir gleichzeitig mit den Schulaufgaben an, vermaß ich erst einmal den Tisch, jeden Tag aufs Neue, legte ein Lineal als Grenze zwischen seine und meine Hälfte. Mein Bruder hielt sich nur ganz selten damit auf, diese Grenze anzufechten. Ich feierte heimliche Siege, wenn es mir gelang, das Lineal um wenige Zentimeter auf sein Hoheitsgebiet zu verschieben.

Dann begann ich, meine Bücher auszupacken und nachzusehen, was bis zum nächsten Tag gemacht werden musste und quälte mich lange mit der Entscheidung, womit ich beginnen solle.

Bis ich endlich soweit war anzufangen, hatte mein Bruder alle am heutigen Tag gestellten Aufgaben erledigt. Dazu brauchte er nicht viel nach zu sehen, denn Aufgabenstellung und Stoff waren ihm noch vom Vormittag im Gedächtnis. Beim Ordnen der Schultasche, warf er noch einen kurzen Blick auf das, was am nächsten Tag anstand und war dann frei für den Rest des Tages.

Ich fing nun erst an. Ließ mich gern und leicht unterbrechen, hielt immerzu Ausschau nach legitimen Unterbrechungsgründen.

Was mein Bruder anfasste, vollendete er auch, schnell und effektiv. Ich ließ Dinge oft halbfertig liegen, weil mir zu der angestrebten Perfektion etwas fehlte. Manches wurde Jahre später vollendet, an anderem verlor ich das Interesse.

Als ich im Leben keinen Sinn mehr sah, es leid war, nach einem Sinn zu suchen und in meinen Augen die Freuden die Arbeit und Mühen nicht mehr aufwogen, weil sie schon zeitlich in einem riesigen Missverhältnis zueinander standen, schob ich die konsequente Lösung immer vor mir her. Einmal war noch Wäsche in der Waschmaschine, ein anderes Mal eine Verabredung getroffen, die ich dann nicht einhalten können würde, die Steuererklärung nicht gemacht, ein unzumutbares Durcheinander in meinen Papieren. Es gab tausend kleine Gründe, warum es jetzt und heute nicht angebracht war. Ich schleppte mich hin, ohne die Dinge in Ordnung zu bringen.

Ein SelbstmordVERSUCH widersprach meinem Sinn für Perfektion. So hatte ich eine dreifach ausreichende Menge Zyankali, eingeschmolzen in einer Ampulle seit langem im Schrank.

Mein Bruder muss alle diese Hindernisse auch gekannt haben. Sehr vieles spricht dafür. Aber an jenem Sonntagmorgen hat er sie alle beiseite geschoben. Der Wille, dies alles nicht mehr mit zu machen, überwog.

Er war perfekt bis zu seinem Ende.

Der Knoten sei gekonnt gewesen, sagten mir die Kriminalbeamten, und so gelegt, dass das Genick sofort brach. Und wäre das nicht passiert, hätte mein Bruder, statt elendig zu ersticken, zurück auf die Leiter gekonnt, von der er gesprungen war.

(Ich habe ihn aufgefunden - zwei Tage nach der Beerdigung meines Vaters)

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Kommentare

  1. Liebe Mondin,
    was für eine tragische Geschichte. Aber auf den Punkt erzählt. Nun weiß ich nicht, ob diese Geschichte fiktiv ist oder nicht. Daher weiß ich nun gar nicht, wie ich mich verhalten soll.
    Alles Liebe

  2. @Mondin
    Es hat mich sehr berührt, liebe Mondin, was und wie du über deinen Bruder schreibst...

    Vor vielen Jahren, Anfang der 80ziger , bin ich weit mehr als mir lieb war mit Suiziden konfrontiert worden. Damals war ich noch völlig ahnungslos, was das für die Familien für Folgen hat. Und Folgen hat so ein traumatisches Ereignis für die Angehörigen ein Leben lang.

    Weil ich mit meinem Sohn nach der Scheidung keine Wohnung bekam, zog ich aus meiner Heimatstadt weg nach Thüringen. Zwei Tage vorm Umzug erfuhr ich, dass die Wohnung noch nicht bezugsfertig sei, ich müsse in eine "Übergangswohnung" ziehen und zwar im "Henkerviertel" . Die Wohnung, in der ich mit meinem Sohn dann fünf Monate wohnte, war einen Tag vor unserem Umzug frei gegeben worden. Die Vormieterin hatte sich im Wohnungsflur erhängt.
    Einen Monat später kam mein damals 13jähriger Sohn aufgeregt aus der Schule heim. Der Mitschüler, der neben ihm saß, wohnte im Nachbarhaus. Er hatte abends seinen Vater zum Essen holen sollen, suchte ihn im Haus und fand ihn schließlich erhängt auf dem Dachboden. - Nun verstand ich den Namen "Henkerviertel".

    Ein 15-jähriges Mädchen habe ich bis heute nicht vergessen. Nie zuvor habe ich eine junge Patientin mit derartig ausdruckslosen, leeren Augen gesehen. - Meine Mitarbeiterin stammte aus dem Dorf und sie erzählte mir später, was dieses Mädchen erst vor kurzem erleben musste. Aus Eifersucht hatte der Vater die Mutter des Mädchens erstochen, die Tochter hat alles mit ansehen müssen. Zwei Tage später hat sich der Vater in der Garage erhängt, wo die Tochter ihn dann gefunden hat. - Mir war übel als mir das die Mitarbeiterin erzählt hatte. Damals war ich - leider - nur hilflos. Jahr später hätte ich dem Mädchen professionelle Unterstützung anbieten können.
    Den nächsten Suizid verübte eine Mitarbeiterin, die nur ab und zu bei mir in der Sprechstunde aushalf. -
    Wie auf dem Dorf so üblich, wurde sie in einer Scheune aufgebahrt. Hinter mir ging der Arzt des Dorfes und flüstere mir zu: "Sehen Sie ihr Gesicht an... Sie ist qualvoll erstickt, weil der Knoten falsch war..."

    Eine glückliche Gegend schien das nicht zu sein...Ein Jahr später zog ich erneut mit meinem Sohn um und zwar nach Senftenberg.
    Was ich - egal wann - Betroffenen empfehlen möchte, professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen, egal zu welchem Zeitpunkt. - Damit möchte ich dir, liebe Mondin, keineswegs zu nahe treten.

    Fühle dich fest und tröstend umarmt...
    LG - happyday

    1. Danke liebe @happyday für deine tröstliche Umarmung!
      Auch ich kenne solche erschreckenden Geschichten. Der Schock hat auch bei mir lange angehalten. Ich habe in dieser Zeit gut funktioniert - allerdings wie ein Automat, sagten meine Kolleginnen später. Nur weil noch etwas anderes daraus erwuchs, habe ich mir Professionelle Hilfe geholt. Ja, das war sehr gut!
      LG Mondin

  3. Liebe @seestern47,
    es ist real, aber es ist über 30 Jahre her. Ich habe es inzwischen verkraftet - es ist ein Teil von mir. Dass ich nach einer Weile darüber schreiben konnte, hat mir sehr geholfen. (Siehe Orpheus I - III) Aber der Januar, ohnehin ein sehr trister Monat, erinnert mich immer wieder daran, denn am 20.1. ist der Todestag meines Bruders.
    Seitdem erzählen mir sehr viele Menschen, dass in ihrer Umgebung/Familie Suizide passiert sind. Es sind erschreckend viele! Und immer noch gibt es Leute, die Depressiven sagen, sie sollen sich zusammenreißen.
    Mondin

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