Die vier Winde

Die vier Winde (Barbara59)

Mit der aufgehenden Sonne kommt der kühle, unstete Ostwind. Unwillig zupft er an den Spitzen der hohen Bäume, die ihre ersten Blätter zeigen. Er lässt das kurze grüne Korn wogen, und streicht vorsichtig über die glatte Oberfläche eines kleinen Teiches, so das er eine Gänsehaut bekommt."Lass das. Es kitzelt mich," ruft er.
Kichernd zieht der Wind weiter. Erklimmt einen hohen Berg, und sein Atem wird heftiger. Hier macht er eine kleine Pause und schaut sich um. Da sieht er eine dicke Wolke auf sich zukommen. Sie hüllt ihn ein, und er meint zu ersticken. Unwillig atmet er tief aus.
"Mach das nicht. Ich bin eine Regenwolke," ruft sie. "Du löst mich auf, bevor ich meine Tropfen fallen lassen kann." Und sie lässt sich schnell ins Tal gleiten.
Es ist mir langweilig hier oben, denkt der Wind, und rollt kleine Steine den Abhang hinab. Er folgt ihnen. Da fängt es an zu regnen. Er schüttelt sich, und verlässt schnell dieses Tal.Die Landschaft wird flach, und bietet ihm kein Hindernis mehr. Auf den Wiesen zieht er an den kleinen Blüten. Unwillig schließen sie sich vor ihm.
"Öffnet euch wieder," ruft der Wind. "Ihr seht so schön aus."
"Erst wenn du vorbeigezogen bist," antworten sie ihm. "Deine Kälte schmerzt uns."
Seufzend zeiht er weiter. Am Rande eines Dorfes steht etwas abseits ein kleines Haus. Ein Fenster ist weit geöffnet. Sachte schiebt er die Gardine an die Seite und weht in das Zimmer.
Auf dem Tisch steht eine blaue Rose in einer Glasvase.
Sanft streicht er über sie. Ihre Blätter sind so hart, dass er sie nicht biegen kann. Aber sie leuchtet in allen Schattierungen der blauen Farbe wunderschön. Vorsichtig riecht er an ihr, aber sie duftet nicht.
"Wer bist du Schöne?"

Sie antwortet ihm nicht.Langsam verlässt er den Raum, um sich auf seine nie endende Reise zu begeben.

"Liebe Sonne, meine Freundin, verhülle dein Gesicht mit den Wolken. Mein Atem wird so heiß, das es mich schmerzt," ruft der Südwind."Schau wie schön ich bin, Bruder Wind. Was ist ein Feuer das nicht wärmt, und was ist Licht, wenn es nicht leuchtet?"
"Du hast von allen zu viel, meine Liebe."
Müde zieht er über die Wüste. Er hat nicht einmal die Kraft, den Sand in Wirbeln tanzen zu lassen.Ich werde über das Meer ziehen. Das Wasser wird mich kühlen, denkt er, und macht sich auf den Weg.Unter ihm liegt ruhig der blaue Ozean. Übermütig streicht er über das Wasser, das kleine Wellen bildet, die nach ihm greifen. Aber auch dieses Spiel wird dem Südwind langweilig, und er lustlos zieht weiter. Weht über dichte Wälder, die vor Hitze knistern. Er überquert eine Blumenwiese, auf der viele bunte Blüten ihm entgegen schauen. Sie wiegen sich leicht auf ihren Stängeln und rufen ihm zu:"Wann bringst du uns Regen? Die Sonne ist so heiß das wir verdursten.""Bald, sehr bald."
Er kommt über ein Dorf. Die Türen und Fenster der Häuser sind verschlossen, und kein Mensch ist zu sehen.
Da sieht er ein kleines Häuschen am Rande der Straße. Die Fenster sind geöffnet. Er streicht um die Ecke und lässt die Gardinen flattern, als er ins Zimmer schaut.Da steht die blaue Rose. Sie funkelt und glitzert an den Blattenden, als die Sonnenstrahlen nach ihr greifen.
"Du bist so schön, wie ich noch keine Blume sah" flüstert der Südwind und hält seinen Atem an.Vorsichtig nähert er sich.
"Wer bist du? Du bist so hart wie Glas, und verbreitest keinen Duft."Er wartet lange reglos auf eine Antwort, aber die Rose bleibt stumm. So macht sich der Südwind wieder auf den Weg und folgt seiner Freundin, der Sonne.

Übermütig treibt der Westwind die Wolken vor sich her."Jetzt komme ich," ruft er laut und schlägt einen Purzelbaum.
"Halte dich ein wenig zurück, sonst zerreißt du mich," murmelt eine dicke, schwarze Wolke. "In mir ist so viel Wasser, das sonst mit einem Mal auf die Erde stürzen würde."Lachend reist der Wind weiter, um sich ein neues Ziel zu suchen.Das Korn ist reif und leuchtet goldgelb. Singend fegt er durch das Feld, und hinterlässt eine Schneise von umgeknickten Halmen.
Jetzt stellen sich ihm Apfelbäume in den Weg. Die Früchte leuchten ihm rot entgegen."Sei vorsichtig, Wind," rufen sie ihm zu. "Unsere Äpfel sind reif und schwer. Wenn du an unseren Zweigen rüttelst, werden sie herab fallen."
Da lässt sich der Wind auf einen kleinen Fluss herab. Er stellt sich der Strömung entgegen."Willst du mit mir kämpfen," fragt das Wasser. Eine Welle stellt sich ihm entgegen. Lachend pustet er sie an die Seite, so dass die Tropfen in alle Richtungen fliegen.
Weiter geht sein Weg über die Welt, bis er auch das Dorf mit dem kleinen Haus erreicht. Immer noch sind die Fenster geöffnet. Neugierig nähert sich der Wind, und lässt das Fenster hin und her klappern. Dabei fällt sein Blick auf die blaue Rose, und er bleibt still stehen.
"Du bist das Schönste, was ich auf meinen langen Reisen sah," flüstert der Westwind.Vorsichtig umweht er sie, und gleitet behutsam über ihre Blüte.
"Du bist hart und geruchlos. Du bist nur ein Ding, das schön ist, mehr nicht," ruft er enttäuscht.Wieder umrundet er sie. Aber er weht so heftig, das die Vase umzustürzen droht, bevor er schnell über den Baumwipfeln entschwindet.

Es ist kalt. So kalt, dass auf den Gräsern sich feine Eiskristalle bilden, als der Nordwind darüber streicht.
Der See ist erstarrt, und kleine Fische drücken ihre Mäuler gegen die dünne Eisschicht, durch die Sonnenstrahlen bis auf den Grund gleiten."Du verbreitest nur kaltes Licht, Sonne. Es friert mich so sehr, dass mein Atem alles erstarren lässt.""Es sieht wunderschön aus, wenn die Eiskristalle in meinem Licht funkeln," ruft ihm die Sonne zu. "Wenn mein Licht wärmt, würde die Schönheiten zerrinnen, lieber Nordwind."Der Wind bläht sich auf, und treibt dunkle Wolken vor sich her, die ihre schwere Last fallen lassen. Der Schnee überzieht ein Teil der Welt mit seinem weißen Tuch.Übermütig spielt er mit den Flocken, lässt sie hoch wirbeln und um sich selber tanzen. Baut Schneewehen auf, über die er fegt.
Die Bergspitzen sind vereist, und er rutscht übermütig mit lautem Heulen in das Dorf hinab. Weht ungehindert durch die Straßen bis zu dem Dorfende. Hier trifft er auf das kleine Haus. Ein Fenster ist matt erleuchtet, und er schaut hinein.
Auf dem Tisch steht immer noch die blaue Rose in der hohen, dünnen Glasvase. Neben ihr brennt eine Kerze, die die blaue Farbe in allen Facetten aufleuchten lässt.
Der Nordwind hält überrascht den Atem an und schaut auf sie. Dann seufzt er leise.
"Wie gerne würde ich dich berühren, meine schöne Königin des Winters. Wie schmiegsam müssen deine Blätter sein, und wie angenehm dein Duft. Ich möchte dich auf meinem Atem über die Welt tragen."Vorsichtig rüttelt der Wind an dem Fenster. Es ist nicht richtig geschlossen, und er öffnet langsam einen Flügel. Die Kerze erlischt, und die Blume verliert ihren Glanz. Unruhig umweht er sie, und haucht sie an. Eine dicke Eisschicht umhüllt die Rose, die nur noch zartblau hindurch schimmert"Alles wird zu Eis, was ich berühre," seufzt der Wind leise. "Ich werde dich auf meinem Atem zu der Sonne tragen."
Schnell macht er sich auf den Weg.
"Meine Freundin Sonne, schau was ich dir bringe.
Sie lässt einen Strahl über die Rose gleiten. Das Eis schmilzt, und wieder schimmert ihr Blau wunderschön. Ihre Blütenspitzen leuchten golden auf.
In dem Sonnenschein wird die Rose immer wärmer, fängt an zu knistern und zerbricht in viele kleine Splitter, die wie Sterne glitzern, als sie zur Erde gleiten."Ich liebte diese blaue Blume," heult der Wind auf, und bläst mit aller Macht die Schneewolken vor sich her.
"Man kann nicht alles besitzen was man liebt. Zu lieben heißt auch verzichten," ruft ihm die Sonne zu.Ohne zu antworten zieht der Nordwind weiter, seine weiße Spur hinter sich lassend.

Eine Geschichte von: Barbara59

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