Das kleine grüne Blatt auf der Suche nach Weihnachten

Das kleine grüne Blatt auf der Suche nach Weihnachten (Barbara59)

Am Ende des Dorfes, da, wo die Straße einen Bogen macht, steht auf einem Hügel ein großer Baum mit einem dicken Stamm. Er hatte sehr viel Platz zum Wachsen, und so breiteten sich seine Äste aus. Er beugte sich den Unwettern und blieb so unversehrt. Jedes Jahr wuchs er höher in den Himmel, und die Blätter auf der Spitze konnten weit über das Land schauen.
Heute ist es kalt geworden, und die Sonne, die den Tag verabschieden will, wärmt nicht mehr. Mit ihrem rötlichen Schein lässt sie die Blätter aufleuchten, so dass das Laub zu brennen scheint. Nur ein Blatt, ganz oben an der Spitze hat noch sein grünes Kleid.
"Warum trägst du nicht die Farbe des Herbstes," fragen die Blätter.
"Ich finde mich so sehr schön," antwortet das Blatt und dreht sich leicht hin und her.
Der Wind, der aus dem Norden kommt, rüttelt an dem Geäst, und viele bunte Blätter wirbeln durch die Luft.
"Komm Wind, wir wollen mit dir reisen," rufen sie.
Der Wind bläst gegen das grüne Blatt. Erschrocken klammert es sich an den dünnen Ast, der heftig hin und her schwingt.
"Bitte, lieber Wind," ruft es laut. "Halte die Luft an. Dein Atem ist so kalt, dass mir das Wasser in den Adern gefriert."
Der Wind haucht noch einmal ganz sanft.
"Ich bin müde," flüstert er dem bunten Laub zu. "Ich gehe schlafen. Morgen komme ich wieder.""Wir werden auf dich warten, damit du uns in die Welt trägst," raschelt es aus dem Blätterhaufen.Am nächsten Morgen steigt dichter Nebel von den Wiesen auf und überzieht das Land. Die Sonne ist nicht einmal zu erahnen. Ein kleiner Vogel hüpft auf den dünnen Zweigen hin und her. Wassertropfen fallen bei jeder Bewegung des grünen Blattes wie Tränen in die Tiefe."Warum weinst du," fragt der kleine Vogel.
"Ich weine nicht. Ich lasse mich von dem Nebel putzen. Wenn die Sonne wieder scheint, werde ich sehr schön aussehen," antwortet das Blatt und dreht sich sachte hin und her."Du bist das letzte Blatt auf dem Baum und noch gar nicht trocken. Willst du nicht herunter fallen?"Neugierig kommt der Vogel etwas näher und umflattert das Blatt."Komme mir nicht zu nah. Ich will noch so lange hängen bleiben, um zu sehen, was Weihnachten ist, von dem die Menschen, die an mir vorbeigingen, erzählten."
"Wenn du dann noch hier bist, werde ich dich zu ihnen tragen, damit du es sehen kannst. Aber nun habe ich Hunger," ruft der Vogel und fliegt davon.
Das Blatt wackelt kaum, als ein leichter Wind aufkommt, der den Nebel vertreibt."Wind, wohin reisen meine Geschwister?"
"In die Weite," haucht er.
So vergehen die Tage, und das kleine Blatt schaut in die Ferne. Es kann jetzt die roten Dächer des Dorfes sehen, und den Fluss, der in der Sonne glitzert. Es wird ihm dabei nicht langweilig.Ab und zu kommt der kleine Vogel vorbei, und erzählt vom Schnee der alles zudecken wird. Auch von den Menschen, die in dem Dorf unter den roten Dächern wohnen.
Eines Morgens ist es sehrkalt geworden, und Raureif legt sich über das Blatt.Wieder kommt der kleine Vogel angeflogen.
"Du siehst in deinem weißen Kleid sehr schön aus," flötet er.
"Mir ist so kalt," wispert das Blatt.
Es schaut um sich. Auch das Gras ist mit einer weißen Schicht überzogen, und die aufgehende Sonne funkelt in den kleinen Wasserkristallen.
"Die Welt ist wunderschön, aber sehr kalt, liebe Sonne. Bitte wärme mich."Sie lässt die Eiskristalle mit ihren hellen Strahlen auf dem Blatt funkeln. Dann haucht sie warm auf das Blatt und fragt:
"Warum bist du noch hier?"
"Ich will wissen, was Weihnachten ist."
"Du wirst erfrieren," flüstert der Wind.
"Dann rolle ich mich fest zusammen."
Langsam wird es immer kälter, und dem kleinen Blatt friert so sehr, dass es sich fallen lassen möchte. Aber der kleine Vogel setzt sich nah zu ihm, und gibt ihm ein wenig von seiner Wärme.
Eines Tages schieben sich dunkle Wolken vor die Sonne, und es fängt an zu schneien. Dicke Flocken hüllen das kleine Blatt ein. Es wird ihm wärmer, und seine gefrorenen Adern tauen langsam auf."Jetzt bin ich müde. Ich werde in meinem weichen weißen Bett etwas schlafen," sagt es zu sich.Da kommt der kleine Vogel angeflogen. Aufgeregt hüpft er auf dem Ast hin und her und ruft:"Heute ist Weihnachten!"
Vorsichtig pickt er das Blatt von dem Ast und fliegt mit ihm zu dem Dorf. Sie schauen in ein Fenster, dass hell erleuchtet ist. Ein bunt geschmückter Baum mit vielen Lichtern steht in der Mitte der Stube. Lachende Kinder packen Geschenke aus."Wie schön," flüstert das Blatt." "Ist das Weihnachten?""Ja, aber Weihnachten hat viele Gesichter."Sie fliegen weiter.
Das nächste Fenster ist nur matt beleuchtet. Das Licht einer kleinen Lampe fällt auf die Seiten eines Buches. Ein Mann liegt im Bett, und seine Frau sitzt neben ihm. Sie liest ihm vor. Ab und zu schaut sie liebevoll zu dem Kranken, und streicht über seine Hand.Leise fragt das Blatt:
"Ist das auch Weihnachten?"
Der Vogel nickt, und wieder fliegen sie weiter zum nächsten Haus.
Hier tanzen junge Leute. Sie bewegen sich schnell nach lauter Musik, welche die Scheiben vibriert lässt.
"Ist das auch Weihnachten?"
Der Vogel bejaht und fliegt weiter. Sie schauen in viele Fenster. Hinter manchen herrscht Dunkelheit.Wieder fragt das Blatt ob auch dort Weihnachten ist.
"Im ganzen Dorf ist Weihnachten," antwortet der Vogel."Nicht auf der ganzen Welt?"
"Das weiß ich nicht. Meine Flügel tragen mich nicht so weit. Doch nun komm, wir wollen weiter."Sie sehen so viel Freude, aber auch Leid und Einsamkeit. Und immer stellt das Blatt die gleiche Frage, die der Vogel nickend bestätigt.
"Jetzt habe ich genug gesehen, lieber Vogel. Jetzt weiß ich, dass Weihnachten für jeden Menschen eine andere Bedeutung hat. Es kann schön oder traurig sein. Laut und leise.Doch nun trage mich zu meinem Baum zurück," bittet das Blatt. "Ich will auf den Wind warten, damit er mich auf seine große Reise mitnimmt."
Der Vogel legt das kleine grüne Blatt auf einen Zweig, wo es sofort einschläft. Es träumt von dem Wind, der es sanft durch die Luft trägt, und es wird ihm warm. Glücklich schläft das grüne Blatt ein."Jetzt ist Weihnachten auch für mich," flüstert es im Schlaf.

Eine Text von: Barbara59

Ähnliche Beiträge

Kommentare

Verstoß melden

Schließen