Die Hinterrüti-Kinder

Die Hinterrüti-Kinder (Larabella)

Die Kinder von Stocken und Krummacher hatten einen langen Schulweg, aber gemeinsam gegangen, war er mehr Erlebnis als Weg. Manchmal – das waren Ausnahmen – richtete es einer der Bauern so, dass Mitfahren auf dem Pferdefuhrwerk möglich war. Den Kindern zuliebe – auch denen der Anderen.

Die Kinder konnten nicht wissen. Man sagte ihnen einfach, man verkehre nicht mit den Anderen: Eine Sache der Grossen. Das musste genügen. Dass oben an der Tanne, jede Familie zu Weihnachten ein Windlicht festmache: Ist halt so Brauch. Ergebnis kindlicher Neugier, die auf dem Schulweg nur grösser und geheimnisvoller werden konnte. Es machte interessant und neugierig. Immer aufs Neue, immer mehr und erst recht mehr, als eines der Stockenmädchen verkünden konnte: Das sei alles wegen dem Amerika-Widmer – und sie werde bald mehr wissen, Grossmutter habe ihr versprochen, einmal alles zu erzählen.

Jetzt, wo ein Anhaltspunkt gefunden war, musste es sein. Erika wurde bedrängt – und sie bedrängte ihre Grossmutter: Du weisst es, sag es mir; wer ist der Amerika-Widmer? Das wissen die Anderen besser als ich; sie sind die Widmer, antwortete Grossmutter ausweichend. Am nächsten Tag genügte der Schulweg kaum, die Widmer-Sache besprechen zu können. Eines war klar: Jetzt müsst ihr; ihr heisst Widmer, ihr seid die Anderen: die Widmer. Es ist an euch! Später war die Enttäuschung noch grösser. Man brauche nicht in alten Sachen und Vergangenem zu stochern: Vorbei ist vorbei; die Toten tot, habe Onkel Jakob, genau so, mit diesen Worten, gesagt. Aber: wir wollen ja nur wissen! Ja genau! Und warum hängen sie denn immer eine Lampe an die Tanne dort oben?
Schliesslich erzählte Grossmutter; sie musste – und dabei ab und zu eine Träne wegwischen.
Im 1918 oder -19 sei das gewesen, als ein Sohn von Stocken nicht mehr vom Militärdienst zurückkehrte. Nur ein Brief: wegen Grippe, man möge begreifen.Begreifen war für die Nachbarn ebenso schwer. Man teilte damals Freud und Leid; auch den Schmerz über diese traurige Meldung. Der junge Soldat war auch einer von ihnen. Oft sass er an ihrem Tisch. Gerne hätte man etwas für den Verstorbenen und seine Familie getan; suchte nach Möglichkeiten. Dabei erinnerte sich der alte Widmer, dass der Verstorbene einmal gesagt habe: Zu den Nussbäumen und der Brunnstube dort oben, gehörte eigentlich noch ein Bänklein. Das war‘s: Werners Wunsch!

Schon bald nahm eine schöne Bank Form an: Für euse Werni wurde in die Rücklehne geschnitzt. Er war auch ihr Werni, sein Tod traf alle gleich – damals. Zeit hatte viel verändert. Es gab wieder Krieg und eine Güterregulierung. Aber jetzt: Auf einmal sollte das, was die Vorfahren der beiden Nachbarn gemeinsam gemacht hatten, nur noch einem gehören: Brunnstube, Bank und Bäume, die Quelle, das Wasser selber. Nur einer soll es bekommen? Ist doch gemeinsamer Besitz – schon immer! Nur zum euch im Voraus sagen: das hat gewaltigen Streit gegeben. Beide Höfe sind durch die Trockenlegung des angrenzenden Riedlandes grösser geworden; aber die Milch hat ab damals jeder für sich in die Käserei geführt.

Weil die Brunnstube zu Stocken geschlagen, Bank und Bäume der Flurgenossenschaft zugeteilt wurden und das Wasserrecht per Servitut geregelt werden musste, verfeindeten sich die beiden Nachbarn. Jeder war überzeugt, der andere hätte den besseren Teil: einer die Brunnstube, der andere den Langacher. Allein das genügte, die guten, über Generationen gepflegten, Beziehungen einzufrieren. Die Jungmannschaft musste respektieren, was verordnet war. Statt gemeinsam den Weg ins Dorf anzutreten, wich man einander aus, Zusammentreffen versuchte man zu umgehen – jahrelang. Und dann die Überraschung: Ein Brief aus Amerika – vom Amerika-Widmer! Was hat er geschrieben, fragten die Kinder.

Er habe, kurz vor seiner grossen Reise, bei den Nussbäumen und hinter dem Bänkli, eine junge Tanne gepflanzt. Genau auf die Grenze, damit sie beiden, dem Werni und ihm selber, gehöre. So wäre es dann, wenn ihm etwas zustossen sollte, das Grabmal für sie beide – und das noch, wenn das Bänkli längstens verfault, nicht mehr da sei. Sein Bruder selig, habe ihm einmal geschrieben, s‘Tännli sei bald so gross wie der Christbaum in der Kirche, deshalb täte es ihn halt riesig freuen, wenn dort zu Weihnachten zwei Kerzen leuchten würden; eine für Werner, der nicht mehr zurückgekommen sei und eine für ihn selber. Sehen würde es zwar keiner von beiden, er komme auch nicht mehr zurück, aber schön wäre es sicher. Allein der Gedanke daran mache ihm warm ums Herz und er könnte sich dann für ewig daheim fühlen.Die ganze Tanne wollen wir schmücken!

Die Buben planten eine elektrische Beleuchtung und die Mädchen wollten den Baum bis zuoberst schmücken. Schliesslich konnten beide Nachbarn nicht untätig zusehen. Mit einer Autobatterie, einem Hoflader und Leitern brachten sie Unterstützung. Einen besseren Platz und einen schöneren Baum, hätte man für die diesjährige Wald-Weihnachtsfeier nicht finden können, stand später im Gemeindeblatt.

Ein Text von: Larabella

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