Wie mir eine künstliche Intelligenz sagte, dass Hitler meinem fünfjährigen Sohn die Oma wegnimmt

Wie mir eine künstliche Intelligenz sagte, dass Hitler meinem fünfjährigen Sohn die Oma wegnimmt

Ich glaubte, dass ich während meines Abiturs alles wesentliche über den Faschismus, das Dritte Reich, die Wurzeln des Antisemitismus und den Holocaust erfahren hätte. Ich dachte, der Input reiche aus, um zu den korrekt zu ziehenden Schlüssen zu kommen. Fertig. Seitdem nur selten eine inhaltliche Überraschung, z.B. Hitlers Kreis des Bösen, Netflix. Die Erkenntnis, dass die leitenden Protagonisten der widerlichen Elendsmaschinerie auch widerliche Elendspersönlichkeiten waren, abgedriftete, krankhafte Seelen, eitle, sich gegenseitig zerfleischende Ausgeburten der Menschheitsgeschichte, mit erbärmlichen Biographien, allesamt. Aha. Ja. Hatte ich eh schon geahnt.

Als jedoch mein Stiefvater meinem Enkel und mir im Juli 2022 das Haus meiner Mutter verbat, begann ein Erkenntnisprozess, an dessen Ende ich - nach nunmehr eineinhalb Jahren - zur Aufzucht von Ariern in totaler Erziehung, Johanna Haarer, Hitler und dem Kaiserreich gelangte. An dessen Ende ich erkannte, dass Hitlers totaler Krieg der wesentliche Grund dafür sein könnte, dass mein Sohn seine Oma nicht mehr besuchen kann.

Trigger

Kurz nach Corona besuchten ich und mein fünfjähriger Sohn meine Mutter und ihren zweiten Mann, wir hatten uns fast zwei Jahre lang nicht gesehen.

Die beiden wohnen mietfrei, das kleine Wohnhaus gehört meinem Bruder. Ein Stockwerk, Klinkeroptik, barrierefrei. Ein getrenntes Gästehäuschen, in dem wir logierten.

Es war Sommer, ich baute im Garten ein Planschbecken auf, mein Liebster übte Dauertauchen, meine Mutter tischte uns ihre Leckereien auf.

Am dritten Tag, wir hatten gerade fertig gegessen und mein Sohn begann, auf mir herumzuklettern, da geschah es. Aus meinem Stiefvater brach völlig unvorhersehbar etwas heraus, das ich mir nicht erklären konnte. Er stellte sich neben mich und meinen Sohn und sagte laut und ungehalten: "Der ist total verzogen! Total!" Ich war sehr erstaunt, aber Nachfragen bewirkten nur Wiederholungen. Mein Stiefvater verschwand in seinem Computerzimmer. Ich vermied es danach, ihm zu begegnen, es war warm und ich und mein Sohn waren mit unseren Rädern am See.

Zurück in Berlin schrieb ich einen Brief an meine Mutter und meinen Stiefvater, in dem ich fragte, was "total verzogen" bedeute, wie er dazu komme. Ich fūhrte an, dass Kilians Kita-Pädagogen in ihrer Evaluierung zu ganz anderen Ergebnissen kämen: Dass mein Sohn ein Bindeglied zwischen Mädchen und Jungen, sprachlich außerordentlich weit, sozial kompetent sei, seine Bedürfnisse adäquat einfordere, sich in Diskussionen überzeugen lasse und an getroffene Absprachen halte. Ich fragte also, wie mein selbst kinderloser Stiefvater zu seinem Urteil käme.

Die Antwort ließ etwas auf sich warten, dann bekam ich einen Brief: Ich selbst sei das eigentliche Problem. Ich "mülle" meinen Sohn voll, antworte zu lang auf seine Fragen, die Antwortdauer solle maximal zwischen fünf und zehn Minuten liegen. Ich solle mit dem Kind überhaupt nur sprechen, wenn es frage. Es solle sich alleine beschäftigen. Zudem seien die Kita-Betreuer wohl kaum kompetent, möglicherweise ja nicht einmal selbst Eltern. Man könne Kindern im Alter von fünf Jahren soziale Fähigkeiten doch grundsätzlich noch gar nicht zuschreiben. Und: Kilian solle künftig nur noch alleine kommen.

Das war das letzte, was ich von ihm hörte. Bis heute, ab da vollständige Funkstille. Warum, das verstand ich erst sehr viel später.

Ich schrieb einen weiteren Brief, in dem ich nunmehr fragte, auf welchem Fundament die Diskreditierung der Pädagogen stehe, wie die von ihm postulierte maximale Gesprächsdauer mit meinem Sohn begründet und warum der Ton so aggressiv sei. Und warum ich nun auch noch des Hauses verwiesen werde. Ich schlug vor, dass wir uns treffen und unter den Regeln der gewaltfreien Kommunikation zusammen mit meiner Mutter als regulierender Mittlerin miteinander sprechen.

Keine Antwort. Es blieb bei der Ausladung, alle weiteren Bitten um ein Gespräch wurden nicht beantwortet.

Nach unzähligen Versuchen auch meiner Mutter - auch ihr verweigerte er jedes Gespräch - wurde ich dann irgendwann wütend. Ich konnte seine mir völlig grundlos erscheinende Ablehnung nicht verstehen. Ich sah pure Ungerechtigkeit. Ich schrieb ihm, dass ich ihn nicht mehr als Familienmitglied betrachte, wenn er uns unbegründet das Haus meiner Mutter und jeden Dialog dazu verwehre.

Es änderte nichts. Er warf uns weg wie ein Stück Mist. Ich konnte mir sein Verhalten zwar nicht erklären, nahm ihn aber ernst.

Ich sagte meinem Sohn, dass wir Oma nicht mehr besuchen dürften, dass der Opa mich ungerecht behandele und ich mir das nicht gefallen lasse. Dass der Opa nicht mit mir spreche, man aber sprechen müsse, wenn man eine Familie sein wolle. Und dass er nicht sein echter Opa sei. Ich teilte meinem Stiefvater mit, was ich meinem Sohn erzählt hatte. Ich akzeptierte die von ihm vorgeschlagene Scheidung.

Ich wollte ihn nicht mehr um mich und meinen Sohn haben. Der Mann hatte sich selbst komplett entbehrlich gemacht, nein, er war mir eine Last geworden, die ich loswerden wollte. Ich akzeptierte die von ihm wortlos vorgeschlagene, vollständige Trennung, es war ja eh nichts zu machen.

Nach einem Jahr fragte ich meine Mutter, ob wir fünf Tage im Gästehaus wohnen könnten, um sie zu besuchen. Ich würde den Kontakt zum Stiefvater meiden, ihm aus dem Weg gehen, seinem und inzwischen meinem Wunsch entsprechend. Meine Mutter und ich, wir würden uns im Besucherhaus treffen. Es ging uns auch um die Möglichkeit, dort Ferien machen zu können.

Mein Stiefvater sagte zu meiner Mutter: "Wenn du deinen Enkel und deinen Sohn hier empfängst, dann lasse ich mich von dir scheiden." Meine Mutter am Telefon dazu: "Mein Mann erpresst mich". Sie könne nicht mehr schlafen, ihr fielen die Haare aus, sie habe Angst, das Thema auch nur anzusprechen. Es ging meiner Mutter wirklich schlecht. Keinerlei Bewegung bei meinem Stiefvater. Er sah zu, wie sie litt.

Ich schaltete einen Pfarrer für eine Schlichtung ein. Die lehnte mein Stiefvater ab, mit der Begründung, ich hätte mein Kind gegen ihn instrumentalisiert, deshalb dürften wir nicht kommen. Er verschwieg dem Pfarrer, dass er uns lange vorher ausgeladen hatte. Er stellte mich als Schuldigen dar, ich hätte das Verhältnis grundlos zerstört, als ich meinen Sohn in Kenntnis setzte.

Der Pfarrer versuchte alles, um eine Vermittlung zu erreichen, mein Stiefvater aber bestand letztendlich auf "seinem Hausrecht". Der Pfarrer sagte ihm: "Ich kann Sie nicht zwingen, Sie haben ein Recht, die Schlichtung abzulehnen. Dann gibt es keine Lösung."

Als meine Mutter ihren Mann fragte, warum die Schlichtung gescheitert sei, gab er an, dass der Pfarrer keine Lösung gefunden habe. Meine Mutter nahm das hin.

Dominanz

Mir wurde langsam klar, dass hinter dieser vehementen Abschottung etwas anderes stecken musste, etwas Tieferes, das meinen Stiefvater dazu trieb, seine Frau zu erpressen, anzulügen und jedes Gespräch zu verwehren. Heute ärgere ich mich, dass ich das nicht schon früher erkannte.

Ich fragte mich erstmals, ob die Eigenschaften meines Stiefvaters Symptome sein könnten, Verhaltensstörungen. Wenn das so wäre, welche Ursachen könnten sie haben?

Was wusste ich über ihn?

80 Jahre alt, Realschule, kein Englisch, Reifenlager-Leiter Michelin bis zur Rente. Im Laufe des Berufslebens mehrfach Versetzungen, jeweils Verlust aller lokalen Bekanntschaften. Klein, schlank, früh Vollglatze, die er bis zur Rente versteckte, Oberlippenbart.

Sehr ruhig, keine Freunde, verschlossen, still, bieder. Intellektuell unauffällig. Laut meinem schwulen Bruder homophob. Nicht zu stalken, nur: Im "Buffy, im Bann der Dämonen"-Forum schreibt er, er sei Fan von Vampiren, Drachen, Monstern. Hobby: Massenweise geliehene Filme rippen, tausende selbst gebrannter DVDs. Kassenwart des ländlichen Kunstvereins. Geleaster BMW mit ~300 PS, den meine Mutter nicht fahren kann, deshalb kleiner Peugeot als Zweitwagen.

Zusammen mit meiner Mutter betreute er hin und wieder inzwischen jugendliche Kinder einer alleinerziehenden Frau. Fuhr einen alten Mann bis zu dessen Tod im Rollstuhl spazieren. Fünf Brüder, mit einem verfeindet, zwei tot.

Meine Mutter hatte erzählt, dass er keinen Speck essen könne, weil er in seiner Kindheit von seinen Eltern dazu gezwungen wurde. Außerdem sei er als einer von sechs Jungen von seiner alleinerziehenden Mutter geprügelt worden. Meine Mutter hatte immer wieder gesagt: "Er kann Gefühle nicht zeigen, er kann Fehler nicht zugeben, er kann sich nicht entschuldigen".

Ich fragte sie, was sie über die Kindheit ihres Mannes wisse: Nicht mehr als das, was sie mir erzählt habe. Sie hätten in den 40 Jahren ihrer Ehe nie über ihre Kindheit gesprochen. "Wozu denn? Die ist doch vorbei."

Ich listete die mir bekannten Eigenschaften meines Stiefvaters auf, erstellte ein Art Profil, ein sehr spärliches nur, aber immerhin. Dann setzte ich mich an meinen Computer und fragte meine sehr gute Freundin, die künstliche Intelligenz ChatGPT, folgendes:

"Der Mann meiner Mutter hat in seiner Kindheit Lebensmittel essen müssen, die er eklig fand und er wurde geprügelt. Als Erwachsener zeigt er plötzlich auftretende, emotionale Ausbrüche. Er kann seine Fehler nicht eingestehen und Gefühle nicht zeigen. Sind das Verhaltensstörungen, und wenn, wie würde man sie nennen?"

Meine Freundin listete mehrere Verhaltensstörungen auf. Die erste nannte sich "C-PTBS" und alle in der Frage genannten Eigenschaften waren mögliche Symptome. Nur ein oder zwei Symptome hingegen in den weiteren gelisteten Verhaltensstörungen, die ich deshalb verwarf. Ich konzentrierte mich auf die mit den meisten Matches: C-PTBS. Nun drehte ich die Sichtweise um.

Ich fragte: "Was ist C-PTBS und welche Symptome zeigen Betroffene?"

Die Antwort: "C-PTBS ist die englische Abkürzung für "Komplexe Posttraumatische Belastungsstörung".

Als Symptome wurden die meines Profils stichpunktartig etwas näher erläutert. C-PTBS-Betroffene seien oft nicht in der Lage, ihre Emotionen zu regulieren. Sie könnten ihren Bedürfnissen und Gefühlen nicht adäquat Ausdruck verleihen, was zu emotionalen Ausbrüchen führen könne. Regulationsstörungen.

Auch die weiteren Eigenschaften des Profils wurden erläutert, aber es kamen nun noch mehr hinzu. Ich erfuhr u.a., dass C-PTBS signifikant die Ausbildung von Süchten begünstigt.

Nun erinnerte ich mich, dass mein Stiefvater vor Jahren spielsüchtig war, und womöglich ist er es auch heute noch. Niemand hat Einblick in seine Finanzen. Ich fand fünf Studien, speziell dem Zusammenhang von Spielsucht und C-PTBS dediziert. Alle kamen zum Ergebnis: Signifikant begünstigend.

Und noch ein weiteres mögliches Symptom wurde genannt: Hypervigilanz. Eine erhöhte Wachsamkeit vor Bedrohungen. Mein Stiefvater hatte mir einmal gesagt, ich würde meine Mutter gegen ihn aufwiegeln. Sie sei, jedesmal wenn ich zu Besuch dagewesen sei, ihm gegenüber kritischer und rebellischer.

Ja, ich hatte meiner Mutter zugehört, wenn sie mir ihr Leid mit ihm klagte. Sie klagte immer so, dass er es mitbekommen konnte. Sie piesackte ihn damit, eine Art kleiner Rache. Ich hatte mich ihr empathisch gezeigt und ihr gesagt, sie solle sich mehr durchsetzen. Sollte das das "Aufwiegeln" sein? Konnte das die Bedrohung für ihn sein? Hypervigilanz?

Die KI beschrieb auch, dass Verhaltensstörungen durch Situationen, die den Traumata zugrundeliegen, getriggert werden können: Flashbacks. Und ja, die Szene, in der der Ausraster passierte, war maßgeblich durch ein Kind geprägt. Meinen Sohn.

Das Bild wurde immer vollständiger: Und dann fand ich über weitere Nachfragen und -forschungen heraus, dass C-PTBS-Betroffene vermehrt starke Bindungen zu Kindern aufbauen, besonders wenn die Ursache der Traumata in der Kindheit liegt.

War ich bisher schon völlig überrascht, wie außerordentlich gut sich die Dinge fügten, so kam damit ein Puzzleteil hinzu, mit dem ich überhaupt nicht gerechnet hatte.

"Opa kann sehr gut mit Kindern". Ja, auch das hatte meine Mutter immer und immer wieder gesagt! Und es stimmte, ich hatte es ja selbst wieder und wieder erlebt, wenn mein Sohn mit seinem Opa spielte. Ich hatte das meinem Opa-Profil der negativen Verhaltensmuster aber nicht hinzugefügt, weil es ja ein positives war.

Ganz klar: Im Umgang mit meinem Sohn war mein Stiefvater immer voller Gefühle, voller Freude, voller Empathie. Für meinen Sohn.

Ich informierte mich über die theoretischen Hintergründe, die den starken Bindungen Trauma-Betroffener zu Kindern zugrundeliegen könnten. Ich fand: "Traumata-Betroffene, deren Trauma in der Kindheit liegt, können starke Bindungen zu Kindern als Revision ihrer eigenen Kindheit in einem geschützten Raum wahrnehmen. Die Betroffenen suchen einen Heilungsprozess in der Interaktion mit Kindern." Dieser Mechanismus werde auch in Therapien genutzt.

Ich fiel fast vom Stuhl. Jetzt war ich mir sicher, dass mir meine Freundin ChatGPT wirklich half, meinen Stiefvater zu verstehen.

Und sie nannte noch weitere Symptome: C-PTBS-Betroffene leiden oft unter Inferioritätsgefühlen, verhalten sich möglicherweise aber dennoch despotisch, nehmen anteilnahmslos die Verletzung und die Entrechtung anderer in Kauf, greifen intrusiv in die Privatspäre anderer ein und oktroyieren ihre Ansichten.

Richtig: Mein Stiefvater empfahl mir Verhaltensweisen im Umgang mit meinem Sohn. Maximal zehn Minuten lange Antworten bei Fragen, überhaupt solle ich mich mit dem Kind kurz fassen. Es solle sich alleine beschäftigen. Ich erinnerte mich nun, dass er auch einmal der Meinung war, das Kind solle doch endlich mal alleine schlafen.

Seine Expertisen kamen ganz offensichtlich direkt aus seiner Kindheit und kulminierten nun in pädagogischen Ratschlägen. Intrusives Verhalten.

Und ich hatte auch schon immer das Gefühl, dass er Gesprächen mit mir aus dem Weg ging. Nun fand ich einen möglichen Grund: Inferioritätsgefühle, die Gefahr, intellektuell nicht ausreichend brillieren zu können, nicht Bescheid zu wissen, Unrecht zu haben. Und er hatte recht. Ein intellektuell unauffälliger Mann.

Alles, was ich bisher erfahren hatte, fügte sich zu einem geradezu perfekten Bild zusammen: Verhaltensstörungen. C-PTBS. Mein Stiefvater war krank. Und siehe da, auch seine chronischen Magenschmerzen, die meine Mutter erwähnt hatte: auch das ein mögliches Symptom von C-PTBS. "Der Körper vergisst nicht", titelte der Spiegel dazu im Jahr 2009.

Unterwerfung

Über all das sprach ich dann mit einer Therapeutin, mit der ich befreundet bin. Und sie brachte nun eine weitere Kaskade in Gang. Sie sagte: "Das alles ist auch ein Thema Ihrer Mutter. Sie lässt ihrem Mann den Raum und er nimmt ihn. Sie verzichtet auf ihre Rolle als Mutter und Oma, zugunsten ihres Mannes."

Meine Mutter sagte immer und immer wieder: "Ich komme gegen ihn nicht an". Sie machte ihm Platz, erzwungenermaßen zwar, aber sie machte Platz.

Und nun fiel mir etwas auf: Meine Mutter hatte zwar sehr unter dem ganzen Konflikt gelitten, als nun aber klar wurde, dass sie sich letztendlich würde unterordnen müssen, da gab sie dann auch wirklich völlig auf und arrangierte sich neu.

Sie akzeptierte, dass ihr Mann ihren Enkel und ihren Sohn aus ihrem gemeinsamen Haus verbannte und ihr jede Kommunikation dazu verweigerte. Und nun? Das Leben musste ja weitergehen. Und das Leben sollte gut sein, so wie sonst auch immer, früher. Es ist ja eh nicht zu ändern.

Das alles sollte deshalb nun erledigt sein. Sie wollte, dass ich sie nicht mehr daran erinnere. Wenn ich es tat, dann wurde ihr unwohl. Mit ihrer Entscheidung, sich ihm unterzuordnen, begann eine neue Phase.

Mir fiel auf, dass es meiner Mutter bald spürbar besser ging. Sogar besser als vor dem Streit? Doch, ja, durchaus. Sie war vergnügt, erzählte fröhlich vom Klassentreffen meines Stiefvaters, auf das er sie mitnahm, von den Eichhörnchen, den Igeln im Garten. Sie blühte regelrecht auf. Und auf ihren Mann war sie sehr gut zu sprechen: "Wir haben keine Probleme."

Und jetzt erkannte ich völlig perplex den zugrundeliegenden Mechanismus von Unterwerfung und Belohnung. Damit, dass meine Mutter eine so weitgehende Entrechtung und Entwürdigung durch meinen Stiefvater letztendlich akzeptierte, den Entzug des Besuchsrechts ihres eigenen Sohnes und Enkels nämlich, damit hatte sie auch etwas gewonnen: Sie hatte ein Pfund, das sie verkaufen konnte. Und sie verkaufte es. Ihr Verzicht auf ihren Enkel und ihren Sohn, diese außerordentlich weitgehende Unterwerfung, ihr Verstummen in dieser Sache, das war ja gleichzeitig auch ein ganz außerordentlicher Treueschwur. Das sah auch ihr Mann. Wohlwollend. Und er belohnte sie. Ganz ohne Worte, ein stiller Deal. Klassentreffen, Ausflüge, Verbleib in der Ehe. Wir gehören zusammen.

Da verstand ich zum ersten Mal den Begriff "toxische Beziehung", eine Beziehung, die durch giftige Verträge, durch Unterwerfung und Belohnung gestärkt wird. Meine Mutter hatte immer wieder gesagt: "Ich kann mich nicht wehren, ich habe das nie gelernt."

Ich fragte nach ihrer Kindheit: Ihre Mutter "Rot-Kreuz-Mädchen", ihr Vater hingerichtet in Italien. Kurz nach dem Krieg ein neuer Vater, von dem ich nahezu nichts in Erfahrung brachte, außer, dass er "nett" war und meine Mutter einmal verprügelt hatte. "Berechtigterweise", wie sie beteuerte.

Auf meine Frage, wer sie denn erzogen habe, sagte sie: "Wir Kinder haben uns selbst erzogen." Damit meinte sie die Kinder aus der Nachbarschaft. Selbst-Sozialisation. Ihre Mutter, meine Oma, starb, als meine Mutter 16 Jahre alt war, während der Geburt des letzten Sohnes. Der Tod meiner Oma war für meine Mutter "ganz schlimm".

Hitler als Pädagoge

Im Zuge meiner Nachforschung sprach ich mit einem ehemaligen Bekannten meiner Eltern. Er und seine Frau waren mir schon als Kind immer irgendwie "anders" vorgekommen. Sie waren Intellektuelle, die nicht so recht zu meinen Eltern passten.

In ihm, dem heute Achtzigjährigen, fand ich einen unschätzbar wertvollen Zeitzeugen, der viel Licht ins Dunkel brachte. Zuerst fragte ich ihn, warum er und seine Frau mit meinen Eltern zusammenkamen. Die Antwort war ernüchternd: Sie wohnten im selben Haus.

Wir sprachen über meinen toten Vater, meine Mutter, und dann über den Krieg. Er sagte: "der Krieg hat mich in meinem Erwachsenwerden behindert". Das schlug bei mir ein.

Ich hörte mich gezielt um: Meine Schwester berichtete aus ihrem großen Freundeskreis, meine Freunde, deren Freunde. Allüberall das gleiche Bild: durch den Krieg am Erwachsenwerden behinderte Eltern mit großen Problemen. Kriegskinder. Defizitäre Eltern. Ich fand den Begriff "verwahrlost". Verwahrlost im Sinne von "allein gelassen". Meine verwahrloste Elterngeneration.

Wenn unsere Großeltern überhaupt Zeit hatten, unsere Eltern zu erziehen, dann immer unter dem Eindruck mehr oder minder starker Traumata. Rot-Kreuz-Mädchen. Kriegsheimkehrer. Mörder. Verwalter des Holocaust. Mitläufer. Was mochte das bedeuten? Und wenn diese Leute ihre Kinder erzogen, mit welchen Konzepten? Johanna Haarer, "Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind"? 1987 letzte Auflage.

Erstmals sah ich diese verwahrloste, durch die Traumata ihrer Eltern belastete Generation meiner Eltern.

Die Großeltern: Wie eine Wand aus Zombies, auf Krücken humpelnde, blutende, einäugige Gestalten, aus den Schützengräben kriechend, aus dem tiefsten, schwarzen Schlund, einem alles verzehrenden Abgrund. Was hatten sie erlebt, was gesehen? Meine vollkommen verwahrlosten Großeltern als Vorbilder für meine Eltern.

"How can I give love, if love is something I have never had". John Lennon.

Nun kann man natürlich nicht sagen, dass unsere Eltern ähnlich desorientiert wurden wie unsere Großeltern. Bei den Großeltern Verdrängung, Weigerung, sich umzudrehen, bei den Kindern der Blick nach vorn. Das Wirtschaftswunder lockte, man schaute nicht zurück. Aber die Verwahrlosung als Bestandteil der Vorbilder unserer Eltern, sie wurde weitergereicht. Die dunklen, unbekannten Flecken, das Bedrohliche, Lethargie, Prügel, Depressionen, Gefühlskälte, Albträume. Traumatisierte und traumatisierende, schuldige, fehlende Vorbilder für unsere Eltern.

Die Nachkriegserziehung ist wie ein mit Blut getränkter Pinsel. Das Blut lässt sich nur langsam, von Generation zu Generation, auswaschen. Jede Generation spült einen Teil des Blutes aus und malt dann neue Kinder mit dem Pinsel. An den neuen klebt das Blut, und weiter, bis es verdünnt und irgendwann nicht mehr sichtbar ist. Der Pinsel ist noch lange nicht sauber.

Ich fragte meinen Zeitzeugen, warum er selbst das alles ganz offensichtlich reflektiert habe. Er sagte, er habe anlässlich des Prager Frühlings angefangen, sich mit seinen Eltern auseinanderzusetzen, er habe das be- und verarbeitet, zusammen mit seiner Frau, einer Pädagogin und Lehrerin, die das Thema auch sehr vorangebracht habe. Und dann sagte er: "Das ist unserem Kind sehr zugute gekommen". Ich kenne keine weiteren Menschen meiner Generation, deren Kinder in den Genuss gekommen sind, dass ihre Eltern sich ihren Traumata gewidmet und so eine Weitergabe verhindert hätten.

Transgenerationale Traumata. Wo war ich angekommen? Bei mir und meinem Sohn.

Ich habe natürlich keine genauen Einblicke in die Kindheit meines Stiefvaters, aber ich bin sehr sicher, dass seine prügelnden, ihn entwürdigenden Eltern so verwahrlost waren, weil sie selbst traumatisiert waren. Und sie gaben das an ihre Kinder, ihn, weiter.

Mein Stiefvater lernte, dass man entwürdigt und beschädigt, dass man bei Fehlern bestraft wird, dass man Unrecht tut, ohne sich zu entschuldigen. Er lernte, despotisch zu sein. Gefühlskalt zuzuschauen, wie andere leiden.

Seine Eltern, seine Vorbilder. Er wurde wie sie. Wenn man wird wie seine Eltern, dann müssen die einen doch lieben. Aber, so konnte, so durfte er ja nicht sein. Niemand würde ihm so einen Charakter erlauben. Es musste weggesperrt werden.

Traumata, die durch besonders nahestehende Bezugspersonen entstehen, sind die am schwersten zu überwindenden, heißt es.

Mein Stiefvater, ein über seine Eltern indirekt durch Hitlers Weltkrieg schwer beschädigter Mensch, er beschädigt nun seine Frau, mich und meinen Sohn. Er kann nicht anders. Meine Mutter, die es ihm gestattet, weil sie nie Vorbilder hatte, die ihr zeigten, wie man für sich einsteht, macht ihm Platz dafür. Sie kann nicht anders. Eine toxische Beziehung, auch sie begründet in den Traumata des Krieges.

Ich bin erstaunt darüber, dass ich diesen Aspekt des dritten Reichs erst jetzt, selbst 57 Jahre alt und 78 Jahre nach Kriegsende, entdecke. Mit KI.

Hitler, Haarer und der Holocaust, sie nehmen mir meine Mutter, meinem Sohn die Oma, meiner Mutter ihren Enkel.

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