Im Zug durch die Nacht

Der Zug rauschte mit hoher Geschwindigkeit durch die Nacht. Mit jedem Kilometer, den der Zug zurücklegte, wurde ihm das Herz schwerer. Schwer wog das, was ihn bewegte. Bei jedem Halt beschlich ihn das Gefühl, er solle einfach aussteigen, den nächstbesten Zug in den Norden Deutschlands nehmen, dann würde ihm jeder zurückgelegte Kilometer das Herz erleichtern. Allein der Gedanke reichte, seine Seele zu beruhigen. Aber er war aber klug genug zu wissen, eine solch verwegene Tat würde nichts ändern. Nichts daran ändern, dass es Zwänge im Leben gibt, die man nicht ignorieren darf. Er hatte vergessen, sich mit Lesestoff einzudecken, so blieb ihm nur sein Notebook, um sich abzulenken. Immer weiter eilte der Zug durch die Nacht, immer schwerer wurde sein Herz.

Ein alter Mann, so kam ihm in den Sinn, sollte sich nicht verlieben. Und vor allem nicht in eine Frau, die etliche Stunden Fahrzeit von ihm entfernt beheimatet war. Man kann seine Gefühle nicht steuern, das war ihm klar. Niemand kann vorherbestimmen, wann und wo einen Amors Pfeil trifft oder auch nicht trifft. Ihn hatte der Pfeil mitten in sein Herz getroffen. Er wollte und musste diese neue Liebe leben, die seine alten Tage versüßte und doch legte er Kilometer auf Kilometer an Bord eines Zuges zurück, der dabei unerbittlich die Entfernung zu der Frau, die er liebte, vergrößerte. Gut zweihundert Kilometer pro Stunde schnell eilte der Zug durch Dunkelheit, würde er doch nur langsamer fahren, eine Baustelle, eine defekte Weiche, eine Störung im Stellwerk, alles, was die Fahrt verzögern konnte, sehnte er herbei, aber er geschah nichts. Konstant zeigte die digitale Anzeige die Höchstgeschwindigkeit an. Nur noch wenige Haltepunkte fuhr der Zug an, dann war das Ziel erreicht. Bremen lag bereits weit hinter ihm, bald würde Osnabrück erreicht sein. Münster, Dortmund, Bochum und Duisburg waren die weiteren Zwischenstopps. Danach dauerte es gerade einmal eine Viertelstunde, dann war er am Ziel.

Der Moment des Abschieds erschien vor seinem Auge. Sie hatten gemeinsam auf dem zugigen Bahnsteig eines Vorstadtbahnhofs gestanden und sich bei den Händen gehalten. Gesprochen hatten sie nicht mehr, es war alles gesagt. Dann rollte die Stadtbahn in den Bahnhof, sie hatten sich noch einmal umarmt, bevor er in den Zug stieg. Durch die geschlossene Tür hatten sie sich intensiv in die Augen gesehen. Der Zug fuhr ab und die Frau, deren Nähe er genossen hatte, stand allein im trüben Licht der Laternen, die die Szenerie fast gespenstig mit ein wenig Licht versorgten.

Er verlegte sich aufs Träumen, sein Wachtraum führte ihn in eine andere Welt. Einfach online ein Ticket für die Gegenrichtung buchen. Einfach klären, welcher Halt sich am besten für den Umstieg eignet. Die Homepage der Deutschen Bahn öffnete sich vor seinen Augen. Er suchte und suchte, nichts passte so richtig, dann machte es Klick in seinen Gedanken. Ab Duisburg im Nachtzug nach Hamburg, das war es. Buche das Ticket, mach hin, mach hin, sonst ist es zu spät. Weiter und weiter eilte der Zug durch die Nacht, Traum und Wirklichkeit verschwammen und vereinigten sich. Fahr schneller, fahr schneller, Zug bring mich zurück an den Ort meiner Sehnsucht.

In der Traumwelt legte der Zug noch einmal an Geschwindigkeit zu, nicht 200, nein, 300 Kilometer pro Stunde bewegte sich die Schlange aus silbergrauen Wagen durch die Nacht. Lichter einsamer Bahnhöfe blitzen kurz auf, dann tauchten die Waggons wieder in die Dunkelheit der wolkenverhangenen Nacht ein. Fast wie im Flug raste der Zug durch die norddeutsche Tiefebene – nichts schien ihn aufhalten zu können. Die Bilder verschwammen vor seinen Augen, er merkte, der zurückliegende Tag war lang und anstrengend gewesen. Bleischwer schlossen sich seine Augenlider, er glitt in den Schlaf und träumte weiter von der Reise gen Norden.

Wohlige Träume umgaben ihn, ganz nah war die Frau, in die er sich verliebt hatte. Nichts würde den dahingleitenden Expresszug bremsen, bis die Fahrt im Bahnhof von Hamburg-Altona endete. Wenn der Waggon, leicht erzitternd, über eine Weiche fuhr oder die Strecke durch eine leichte Kurve führte, wurde die Traumwelt kurz gestört. Sobald der Zug wieder gleichmäßig dahinrollte, glitt er zurück in seinen Traum. Immer näher kam ihm die Frau, er reichte ihr die Hand und zog sie an sich heran. Sein Traum schien Wirklichkeit zu werden, nie mehr wollte er sich von ihr trennen.

Ein Geräusch schreckte ihn hoch. Er war kurz desorientiert. Sowie er sich umsah, kehrte er in die Wirklichkeit zurück. Die gleichen Reisenden saßen immer noch auf der anderen Gangseite neben ihn im Waggon. Die Frau in der Sitzreihe vor ihm spielte immer noch an ihrem Smartphone herum, der junge Mann, weiter vorn, telefonierte immer noch lautstark. Das Geräusch, das ihn aus dem Traumland zurück in die Wirklichkeit geholt hatte, entpuppte sich als die turnusmäßige Lautsprecherdurchsage vor dem nächsten Halt. Er bekam nur noch den Rest der Ansage mit und verstand 22:45 Uhr. Die Durchsage wurde auf Englisch wiederholt: Next stop, Düsseldorf main station at 10:45 p.m. Er warf einen Blick auf die Uhr, nur noch fünf Minuten. Er schloss sein Notebook, verstaute es in seinem Koffer, rollte das Netzkabel zusammen und stecke es samt Netzteil in die Seitentasche des Koffers, zog seine Jacke an und schulterte seinen Rucksack. Bereits im Hinausgehen verabschiedete er sich kurz von den Mitreisenden in der gleichen Sitzreihe und ging zur Tür. Der Zug rollte bereits durch die stadtnahen Vororte und kam nach wenigen Minuten im Bahnhof zum Stehen. Er öffnete die Tür, stieg aus und griff nach seinem Koffer. Ein Warnsignal ertönte, die Türen schlossen sich wie von Geisterhand und der Zug fuhr langsam beschleunigend aus dem Bahnhof. Auf dem Bahnsteig war es nass und zugig. Seinen Rollkoffer hinter sich her ziehend, ging er in Richtung der Treppen, die Wirklichkeit hatte endgültig erreicht.

Das Original der Geschichte findet Ihr hier

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Kommentare

  1. @BerndMoosecker - Noch vergangene Nacht habe ich die Geschichte gelesen und war plötzlich mitten drin in meinem eigenen, längst vergangenen Erleben. -
    Doch erst mal möchte ich sagen, lieber Bernd, dass mich die Geschichte sehr berührt hat. Und JA, sich verlieben ist in jedem Alter möglich. Und NEIN, die Liebe kümmert sich wenig bis gar nicht um Gründe der Vernunft.
    Es ist jetzt mehr als 20 Jahre her, da stand für mich die Entscheidung im Raum, Deutschland zu verlassen und ins Land meiner damaligen Liebe zu ziehen. Jede Menge Gründe sprachen dagegen, z.B. ein anderes Land, eine andere Sprache, und, und, und...Gescheitert ist es am Ende am Verhalten der Bank, ich war nicht in der Lage den sofort fällig gewordenen Kredit für meine Praxis auf den Tisch zu legen. - Die Liebe ging nicht zuletzt aufgrund der großen Entfernung vorüber. Meine Liebe zum Land und auch der Sprache sind geblieben sowie viele schöne Erinnerungen.
    Viele Grüße von happyday

    1. Oh, welch ein Echo auf eine kleine Geschichte. Eine Fahrt mit der Eisenbahn durch die Dunkelheit verleitete mich zum Schreiben. Das Ergebnis einer Reise, auf der ich real meinen Lesestoff vergessen hatte und mir nur die Beschäftigung mit dem Notebook zur Unterhaltung blieb.

      Auf die zahlreichen Kommentare versuche ich mich nun in einer Antwort an alle:
      @Puppenspielerin , @Igel3 , @Glueckstag - ich würde das Ende der Geschichte schreiben, aber woher soll ich das Ende kennen. Ein weiterer Grund ist, fast alle meine Geschichten, die ich bis zum Ende gesponnen habe, enden tragisch. Happyend ist nun einmal nicht meine Stärke 🙁 Es ist eben eine Geschichte, wenn auch auf einer realen Eisenbahnfahrt beruhend.

      @Gitta2022 . Da gebe stimme ich mit Dir überein, verlieben kann man sich in jedem Alter. Nach über achtzig Lebensjahren weiß man aber endgültig, dass es sehr schwierig ist, eine Fernbeziehung zu pflegen. Die Kraft lässt eben nach, die Möglichkeit, die Entfernung mit dem Auto zu überwinden endet. Doch die Magie der Liebe bleibt und das genieße ich und ich lebe die Hoffnung, dass alles günstig verläuft.

      @happyday , Dein Beitrag zeigt die Tragik, die in der Liebe enthalten sein kann. Es erfüllt mich mit Trauer von diesem Scheitern zu lesen. Ich werde wohl noch viele Fahrten durch die Nacht wagen, immer in der Hoffnung, es möge nicht die letzte Reise sein.

      Ich danke für alle Eure Kommentare.
      Gruß Bernd

  2. Auch diese Geschichte habe ich sehr gerne gelesen und freue mich sehr, hier auch Menschen zu treffen, die gerne schreiben. Falls Interesse besteht an einem Austausch über Verlage, Veröffentlichungen ... und alles, was das Schreiben betrifft: Sehr gerne!

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