Die Selbstdiagnose-Gesellschaft

Keine Generation gilt als kenntnisreicher hinsichtlich der Vorgänge und Leiden von Körper und Psyche als die unsere; mit »Doktor Google« und Betroffenenforen hat die Selbstdiagnose ungeahnte Höhen erklommen, immer mehr Patienten sagen dem Arzt gleich beim Herein- kommen, was ihnen fehlt und welche Behandlung sie brauchen – in den entsprechenden medizinischen Fachtermini.

Diese Kenntnis führt rasch zur Selbstpathologisierung – jeder Ermüdungszustand ist ein Burn-out, jede Magenverstimmung eine Laktose- oder Fruktoseintoleranz und jedes allzu lebendige Kind hat ADHS. Wir sind in jedem Fall richtig krank; und natürlich wissen wir nicht nur über uns selbst Bescheid, sondern können auch allen anderen die Diagnose stellen.

Das Benennenkönnen birgt jedoch auch das Risiko, zu viel zu vermuten und zu viel zu spüren. Denn medizinische Begriffe können die Kraft ausüben, die entsprechenden Symptome gleich bei uns selbst wahrzunehmen. Andererseits entlastet es natürlich, langjährige diffuse Schmerzen in Fachbegriffen »objektivieren« zu können.

Die Konzentration auf eigene Befindlichkeiten führt in der Tendenz dazu, gesamtgesell- schaftliche Leiden wie Stress, Arbeitsdruck, Selbstausbeutung zu personalisieren und sich privat allein zuzuschreiben.

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Kommentare

  1. Zum dem Thema hatte ich ein interessantes Gespräch mit einem Orthopäden. Nach seiner Erfahrung sind es hauptsächlich Männer, die ihre Symptome bei einer Suchmaschine eingeben und dann mit der schlimmsten der möglichen Diagnosen bei ihm auftauchen. Eine Art von sich selbst erfüllender Prophezeiung kommt noch dazu: jedes per Suchmaschine gefundene Symptom wird kurz darauf bei sich selbst entdeckt.
    Der Arzt erzählte das mit einer Mischung aus Belustigung und Verzweiflung, mir hat es Spaß gemacht.

  2. Oh ja, zweifellos ist Google/Wiki ein gute Möglichkeit, kann aber auch bei sensiblen Personen (will jetzt nicht schreiben'Hypochondern') eine gewisse Gefahr sein.
    Ich habe mal gehört, dass Medizinstudenten in der ersten Zeit ihres Studiums bei sich selbst alle Krankheiten feststellen, über die sie gerade etwas gelernt haben.....

    1. Ein frisch gebackener Mediziner wird von seinem Komilitonen gefragt, welches Fachgebiet er anstrebe. Antwort: Gynäkologie. Hämisches Lachen. Er: Nicht was ihr denkt! Was ich da lerne, kann ich nicht selbst haben!

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