500 Jahre und ein Tag

Ich habe all meine Vorfahren, fast alle Freunde und früheren Kollegen, all die Menschen, die mich auf meinem Lebensweg begleitet haben, überlebt und auch die Frau, die ich liebte, ist von mir gegangen. Nun bin ich an dem Punkt angelangt, an dem ich übe, mit dem eigenen Ende umzugehen. Da bin ich entspannt, denn nach diesem langen glücklichen Leben ist es jetzt Zeit zu gehen. Vielleicht stimmt das so nicht! Nein, es stimmt wirklich nicht. Es gibt keine Zeit zu gehen, in einer nicht zu bestimmenden Zukunft werde ich sterben. Wann? Das ist gleichgültig! Ich fühle mich so, als sei ich von unbestimmtem Alter. Fünfhundert Jahre und ein Tag, so fühle ich mich und deshalb ist für mich selbst mein Alter leicht zu bestimmen. Das unbestimmbare Alter kann ich deshalb streichen. Die fünfhundert Jahre sind unwichtig, es können auch hundert oder fünfzig Jahre sein. Wichtig ist der eine Tag, dieser eine Tag, auf den ich neugierig bin. Meine Tage beginnen damit, dass ich neugierig auf den neuen Tag erwache, das ist es, was zählt und was mich antreibt. Was zählen da die bereits vergangenen Jahre? Der Tag ist es, der eine Tag, der gerade vor mir liegt.

Nach fast sechs Jahrzehnten Gemeinsamkeit mit der Frau, die ich geliebt und geachtet habe, betrachte ich diese Zeit als besondere Gnade. Ihr Tod stieß mich in tiefe Verzweiflung, bis ich schließlich erkannte, sie hat mich nicht verlassen. Ich kann sie immer noch erreichen. Sie antwortet, wenn ich sie um Rat bitte. Da sind keine übernatürlichen Kräfte im Einsatz, die vielen gemeinsamen Jahre sind es, die mich wissen lassen, wie ihre Antwort auf meine Fragen lautet.

Zurück zu dem einen Tag! Was scheren mich die vergangenen Jahre? Vorbei ist vorbei und vergangen ist vergangen. Die Vergangenheit besteht eben nur aus Erinnerungen – schönen, schrecklichen, traurigen und hässlichen. Es ist eben Vergangenheit – meine Vergangenheit, sie stirbt an dem Tag, in der gleichen Minute, in der auch ich sterbe. Meine Erinnerungen nehme ich mit ins Grab. Oder nicht? Doch es ist so, wie ich es gerade beschrieben habe. Es sei denn, ich falle auf meinem weiteren Lebensweg einer Demenz anheim, dann stirbt die Erinnerung vor mir. Niemand wünscht sich das, aber es ist trotzdem niemand davor gefeit und so habe auch diese Möglichkeit im Blick.

Bis es aber soweit ist, will ich meinen Tag gestalten. Dinge auf den Weg bringen, ist die schönste Art, die Tage zu gestalten. Da aber ist das Alter eine echte Bremse, genau genommen eine Barriere. Wer Dinge auf den Weg bringen will, braucht Beharrlichkeit und Ausdauer. Eigentlich habe ich beides. Nur will ich meist so viele Dinge auf den Weg bringen, dass dafür meine Lebensspanne auf gar keinen Fall reichen wird. Sich auf die Gegebenheiten des fortschreitenden Alters einzustellen, scheint eine schwere Übung zu sein. Dem einen gelingt das besser, dem anderen fällt es schwerer. Mir fällt es sehr schwer.

Einmal abgesehen davon, ich gestalte gerne Dinge und deshalb braucht es immer diesen einen Tag. Der Tag, an dem ich erwache und neugierig bin. Was kann nicht alles an diesem einen Tag passieren! Es kann mein letzter Tag sein, das weiß ich nicht, aber das weiß schließlich niemand. Nur ist eben im fortgeschrittenen Alter die Wahrscheinlichkeit, dass gerade dieser Tag der letzte sein könnte, höher als in jüngeren Jahren. Es kann ein glücklicher Tag werden, ich könnte mich verlieben, ich könnte üben, mit einem PKW-Anhänger zu rangieren. Ich kann aber auch versuchen, ob ich noch zwanzig Kilometer am Stück wandern kann oder ich vertiefe mich einfach in ein Buch, das ich schon lange einmal lesen wollte. Was also der Tag bringt, ist immer ungewiss und deshalb sehe ich jedem meiner Tage mit Spannung entgegen.

Was auch geschieht, es geschieht zufällig. Ich glaube weder an Vorsehung noch an einen (göttlichen) Plan, der mein weiteres Leben bestimmt. Der Zufall wird es richten. Ich stoße auf einen bissigen Hund, der mich ins Bein beißt. Abwegig? Das mag sein, ist mir aber leider bereits passiert und das auf offener Straße. Wie oft wird statistisch gesehen ein Mensch im Laufe seines Lebens vom Hund gebissen? Ich weiß es für Berlin (wenn ich richtig gerechnet habe). 0,01 % bei 80 Lebensjahren. So liege ich mit einem Biss kräftig über dem Durchschnitt. Der Zufall kann es auch richten, dass ich mich verliebe. Das ist, wenn ich auf mein Leben zurückblicke, häufiger geschehen als der Hundebiss und dazu kann ich jetzt nur schreiben, das ist gut so.

Am heutigen Tag hat die Sonne den Zenit bereits überschritten. Bisher hat er das erfüllt, was ich erhofft habe, und natürlich lebe ich nicht einfach in den Tag hinein und warte auf das, was da kommt. Ich gestalte gerne, das habe ich bereits geschrieben. Zum Gestalten gehört auch die Hoffnung, dass das eintrifft, das ich zu gestalten versuche. Ich gehe den Tag nicht nur mit Neugier an, ich versuche optimistisch durch das Leben zu gehen und so finde ich jetzt vielleicht doch noch den Dreh zu den 500 Jahren. Ich schreibe es wieder einmal aus – fünfhundert Jahre. Das ist aus menschlicher Sicht eine lange Zeitspanne, aus evolutionärer Sicht eher ein Wimpernschlag, eine Randnote im Lauf der Evolution. Doch wenn ich die fünfhundert Jahre zurückblicke, bestätigt sich vieles, was meinen Hang zum Optimismus stützt. Wenn auch die größte aller Geiseln, der Krieg, nicht überwunden wurde, bevorzuge ich den optimistischen Rückblick. Leibeigenschaft, Folter und Tyrannei wurden in weiten Teilen der Welt (insbesondere in unserem Heimatkontinent Europa) überwunden. Sklaverei ist weltweit zu einer seltenen Erscheinung geworden, um nur einige Beispiele zu nennen.

Ich bin jedoch nicht blind gegenüber dem, was noch zu bemängeln ist. Der Hass scheint auch eine unüberwindbare, die Menschen durch alle Zeiten begleitende, Erscheinung zu sein und wird es vielleicht für immer bleiben. Hass, gepaart mit wirtschaftlichen Interessen oder Großmannssucht, sehe ich als treibende Kraft hinter den Kriegen, die die Geschichte der Menschheit begleiten. Da hat sich nichts im Laufe der Jahrhunderte geändert. Fehlgeleitete Ingenieurskunst hat immer schrecklichere und tödlichere Waffen hervorgebracht. Wann wird das enden? Da sich weder wirtschaftliche Interessen noch Großmannssucht beseitigen lassen, bleibt als einzige Chance, die Ursachen des Hasses zu beseitigen.

Schon lande ich wieder bei meinem Alter. Achtzig Jahre haben nicht gereicht, den Hass zu überwinden; und wäre ich wirklich fünfhundert Jahre alt, hätte auch diese Zeit nicht gereicht. Das muss ich weder erklären noch beweisen, es ist einfach so. Der eine, dieser eine Tag, den ich für so wichtig halte, wird auch nichts daran ändern. In diesem Punkt sah ich lange mein Leben als gescheitert an, da hilft mein Gestaltungswille rein gar nicht. Mit der Frau, die ich liebte, war ich mir in diesem Punkt einig – wir sind gescheitert und das gemeinsam mit unserer ganzen Generation. Aber der Mensch entwickelt sich eben weiter. Heute beurteile ich mich selbst und meine Generation milder. Zwei Frauen, altersmäßig könnte die eine meine Tochter, die andere meine Enkelin sein, widersprachen mir (zu verschiedenen Zeiten und unabhängig voneinander) heftig, als ich meine Thesen zu meinem Scheitern vortrug. Ihre Argumente waren fundiert und wurden überzeugend vorgetragen. Ich gab mich geschlagen und fühle mich seitdem nicht mehr als am Leben gescheitert an.

So bin ich (fast) überzeugt, ich werde den Tag, diesen einen Tag, von dem ich hoffe, dass es nicht mein letzter sein wird, weiter gestalten. Besser gesagt, ich versuche ihn zu gestalten und werde immer wieder daran scheitern, dass ich zu viele Dinge gleichzeitig gestalten will. 500 Jahre und einen Tag lebe ich nun. Ich bin dem Tode näher als Zeugung und Geburt, aber die eine Gewissheit bleibt, selbst wenn ich heute, in der nächsten Stunde oder morgen sterbe, ich kann den Zeitpunkt nicht vorhersehen. Das gefällt mir und deshalb kann ich meine Tage gestalten, ohne zu wissen, ob meine Pläne Sinn machen oder in diesem Moment bereits Makulatur sind.

500 Jahre und ein Tag, 1999 Jahre und ein Tag, alles fließt ineinander. Die Jahre sind die Vergangenheit, daher ist ihre Anzahl unerheblich. Der Tag ist es, der eine Tag, die eine Sekunde, das ist die Gegenwart. Das ist die Zeitspanne, in der ich gestalten kann. Aus dem Gestalten erwächst die Zukunft und es ist völlig gleichgültig für einen Menschen meiner Altersstufe, wie viel Zukunft noch vor ihm liegt, aber diese Zukunft muss gestaltet werden. Ich schreibe das in dem Wissen, sobald die Zukunft erreicht ist, wird sie zur Vergangenheit. Am Ende vermischen sich Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Für mich geschieht das an dem Tag, in der Stunde, in der Sekunde, in der ich sterbe.

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