von Ernu

Anna kocht gern

5. Dezember 2018 in Weblogs

Anna ist ein herzenswarmer Mensch. Ich besuche sie gern – nicht nur, weil es bei ihr immer leckeres Essen gibt. Wir mögen uns einfach, wir beide.

Aber ich versteh‘ sie nicht …

Anna ist so voller Bewunderung für die Talente anderer Menschen, dass ich sie bewundere dafür, wie aufmerksam sie ist und wie wertschätzend ihre Sicht. Sie käme nie auf die Idee, etwas Selbstgemachtes zu tadeln. Es liegt ihr fern, mit einem Bild, einem Text oder einem Musikstück anders umzugehen als mit Bewunderung. Fast wie ein kleines Kind kann sie sich völlig unbefangen über die Talente Anderer freuen, sie bestaunen und sie bewundern.

Und manchmal beneidet sie sie.

Und das ist eine Sache, die ich nicht verstehe.
Wenn sie mich zum Essen eingeladen hat, dann ist der Tisch gedeckt wie für einen ganz besonderen Gast. Und das, was sie auftischt, gereicht jedem guten Restaurant zur Ehre. Stundenlang muss sie am Herd und in der Küche gestanden haben, vorher hat sie alle Zutaten sorgfältig ausgewählt und eingekauft.

Mir ist die Bedeutung, die sie mir damit gibt, unangenehm. Aber ich nehme das an, um ihre Freude nicht zu schmälern. Denn ich sehe sie ja, diese Freude – und die Begeisterung –, mit der sie anrichtet, aufträgt, mir vorlegt und auffüllt. Es ist unglaublich, mit welcher Hingabe sie das alles macht und tut.

Um mir dann hinterher in einem Gespräch zu erkären, dass sie mich bewundert für das, was ich tue. Und andere bewundert für das, was sie tun. Und für die Talente, die die haben.

Warum eigentlich begreift sie das ihre nicht? Wenn ich Anna darauf anspreche sagt sie abwehrend: „Ich koch‘ halt gern.“ …

von Ernu

Zweizweiunddreißich – II

3. Dezember 2018 in Weblogs

Während die Kassenschlange hinter mir sich in wildem Durcheinander zur zweiten Kasse aufmachte, zog er seine Brieftasche hervor, durchfummelte sie bis zu einem versteckten Fach und zog von dort einen mehrfach gefalteten Zettel hervor. Doch erst wurde die Brieftasche wieder eingesteckt, dann der Zettel auseinandergefaltet und geglättet. Allerdings schien die Schrift darauf etwas undeutlich, denn er schob seine Brille auf die Stirn und berührte mit der Nase seinen Zettel.

„Ah ja“, raunte er. Der Zettel wurde wieder zusammengefaltet und die Brieftasche herausgeholt, während die letzte Kundin hinter mir begann, ihre Einkäufe vom Warenband herunter in den Einkaufswagen zu räumen.

Doch nun beugte er sich vor, schien mit dem Zeigefinger die richtige Taste zu suchen, und sah dann mich!

Ich stand ja eigentlich „nur so“ da, relativ teilnahmslos. Dennoch schien er sich beobachtet zu fühlen und warf mir einen misstrauischen Blick zu. Dann legte er eine Hand über das Kopfende der Tastatur, näherte sich dieser mit den Augen, ließ seinen Finger wie einen Adler darüber schweben und tippte dann – nach dem er mehr oder weniger zu sich selbst „drei“ gesagt hatte – kräftig drauf.

Ein kurzer Blick zu mir, ob ich auch nicht zuguckte, dann „vier!“ und tipp. Das wiederholte er dann mit „null“ und „sieben“ und richtete sich dann, tief ausatmend – mit einem langen Blick auf mich – wieder auf.

Ich hatte nix gesehen, ehrlich!

Nebenan die Schlange an der Kasse wurde kürzer und kürzer. Noch überlegte ich …
„Bitte noch bestätigen,“ die Stimme der Kassiererin.

„Ah ja,“ vorgebeugt, den Finger kurz kreisen lassen und dann zack! Energisch getippt und die Brille wieder über die Augen gezogen.

Dann dieser kurze Moment beklemmenden Wartens, bis der Drucker sich leise ratternd in Bewegung setzte.

Besser gesagt: setzen sollte. Aber es piepte nur.

„Sie haben die Pin falsch eingegeben.“ Die Kassiererin schien immer noch ruhig, während sich bei mir nicht nur ein Harndrang bemerkbar machte, sondern auch erste Anflüge von Panik deswegen.

Ich begann zu beten …

„Das kann nicht sein,“ schien er den Automaten für kaputt zu halten. Aber es nützte nix, er musste da nochmal durch. Wieder der joviale Griff in die Brusttasche, der Blick auf den auseinandergefalteten Zettel mit hochgeschobener Brille und „stimmt!“

Dann wieder Ordnung hergestellt, Adler-Suchsystem aktiviert und ausgeführt und: „Drei“, „vier“, „neun“ „sieben“ und „pffrrrt“.
Wieder dieser Moment … Doch dann ratterte der Drucker los.

Ein tiefer Seufzer löste sich in mir. Ich hatte nicht mehr geglaubt, dass ich das noch erleben darf.

Nun noch „Ihre Karte noch …“, dann der Griff in die Brusttasche … Brieftasche, Karte, zum Abschluss die Brille über die Augen und mir einen triumphierenden Blick zugeworfen. „Dankeschön. Auf Wiedersehen!“, schob er dann seinen Wagen von dannen.

Als die Kassiererin begann, meine paar Sachen durch den Scanner zu ziehen, legte ein junger Mann nach mir seine Sachen aufs Band, schaute mich strahlend an und bemerkte: „Toll, diese neuen Schnellkassen, ne?“

von Ernu

Zweizweiunddreißich – I

3. Dezember 2018 in Weblogs

Ich musste schmunzeln, als ich ihn wahrnahm. Er schien ein „feiner“ älterer Herr zu sein in seinem grauen Anzug mit Krawatte, groß und schlank, die Haare sorgfältig nach hinten gekämmt.

Aufmerksam auf ihn wurde ich durch die Art, mit der er seine Einkäufe auf das Warenband legte. Es schien, als würde er einer gewissen Ordnung folgen, denn das eine oder andere wurde umsortiert und hin und her geschoben. Er wirkte konzentriert und zwischendurch schien er zu überlegen.

Ich hatte meinen Einkauf wie üblich systemlos auf dem Laufband hinter dem seinen verstreut – so, wie ich ihn aus dem Wagen genommen hatte. Das ging schnell und so war Zeit genug, den Herrn zu beobachten.

Er selbst schaute mich nicht an, aber meine „Ordnung“ schien ihm nach einem kurzen Seitenblick doch ein Stirnrunzeln zu verursachen, das ihn nötigte, den Warentrenner zwischen unseren Einkäufen mit feingliedrigen Händen sorgfältig korrigierend zu verschieben, so dass der genau mittig lag. Hundertprozentig.

Innerlich schüttelte ich mit dem Kopf. Das aber nur kurz, denn jetzt war er dran. Nun wollte ich doch gerne wissen, wie er seine sorgfältige Art in der Zusammenarbeit mit der Kassiererin fortsetzte, die schon anfing, die Waren über den Scanner zu ziehen, während er noch den Einkaufswagen herumschob, um ihn korrekt in der Bucht hinter der Kasse zu platzieren. Doch er griff mit ruhigen Bewegungen zu.

Die Kassiererin schien ihn zu kennen, denn sie legte Pausen ein und schob ihm Einiges entgegen (er schien sie im Laufe der Zeit gut erzogen zu haben). Tatsächlich landeten alle Waren in der offensichtlich richtigen Ordnung stresslos in seinem Einkaufswagen. Dann zog er eine Brieftasche aus der Brusttasche seine Sakkos und hielt der Kassiererin einen scheinbar gebügelten Zwanzigeuroschein entgegen, den sie nahm.

Lächelnd schaute sie ihn an und er erwiderte fragend ihren Blick.

„Zweizweiunddreißich,“ sagte sie, „ich bekomme noch zweizweiunddreißich.“

Irritiert schaute er erst sie an und dann konsterniert in seinen Einkaufswagen.

„Wollen Sie etwas zurückgeben?“, nach kurzer Pause.

Die Schlange hinter mir schien unruhig zu werden, und der Herr wirkte ratlos für einen Moment. Gerade war ich bereit, ihm die „zweizweiunddreißich“ anzubieten, als ihm eine Idee kam: „Karte! – Karte geht doch auch, oder?“

„Ja sicher, kein Problem.“ Sie gab ihm den Zwanziger zurück.

Wieder wühlte er in der Brusttasche seines Sakkos, verstaute den Zwanziger in der Brieftasche, steckte sie zurück und förderte einen silbernen Kugelschreiber hervor, knipst ihn schreibbereit und schaute sie dann abwartend an.

„Ja?“ Ihre Frage beantwortete er mit „Muss ich nicht einen Bon unterschreiben?“

„Genau! Aber vorher brauche ich ihre Karte.“

„Ach ja. Verzeihen Sie.“ Und wieder der Griff in die Brusttasche, Brieftasche aufgeklappt und dann ruhig und unaufgeregt nach der Karte gesucht, die zwischen vielen anderen steckte. Irgendwann zog er sie hervor und reichte sie der Kassiererin.

„Die müssen Sie hier hineinschieben,“ sagte sie und drehte den Kartenautomaten ihm zu.

Den Schlitz traf er nicht sofort, doch dann ging’s irgendwie, und abwartend stand er dann da.

„Den Chip bitte nach vorne,“ sagte die Kassiererin, „Magnetstreifen nach unten.“

Er zog die Karte heraus, drehte sie mehrfach, beugte sich vor, friggelte sie wieder in den Schlitz hinein und atmete dann hörbar aus.
„Danke. Und nun den grünen Knopf drücken und den Pin eingeben.“

Wieder beugte er sich vor, schien den grünen Knopf zu suchen, den er dann engagiert drückte, um hernach triumphierend auf die länger werdende Schlange hinter mir zu schauen.

„Und jetzt den Pin eingeben, bitte.“

„Pin …?“

„Ja, bei Einkäufen über zwanzig Euro müssen sie ihren Pin eingeben.“

Er überlegte kurz, doch dann schien der Groschen gefallen. „Moment,“ sagte er und griff in die Brusttasche.

„Moment,“ sagte sie, beugte sich vor zum Mikrofon, drückte die schwarze Taste und: „Eine zweite Kasse bitte,“ schallte es durch den Raum.

von Ernu

Annas Weg

3. Dezember 2018 in Weblogs

Als Anna erwachte, wusste sie, dass sie sich trennen würde.

Einfach so.

Dem Entschluss war keine bewusste innere oder äußere Auseinandersetzung vorangegangen, aber sie wusste es plötzlich ganz genau. Sie war trotzdem nicht erstaunt darüber – es fühlte sich "fest" an –, und sie hatte auch keine Angst.

Dabei war in ihrer Ehe alles in Ordnung.

Eigentlich.

Sie galten bei Freunden und Nachbarn als Traumpaar. Sie hatten alles, was sie brauchten – beide einen Job, beide ein Auto und gemeinsam eine wirklich schöne Wohnung.

Über 30 Jahre waren sie verheiratet und es hatte noch nie einen Streit gegeben. Noch nie!

Konnte es aber auch nicht. Denn im Grunde führte jeder sein eigenes Leben – er seines für sich und Anna ihres für ihn.

Das wurde ihr gestern wieder bewusst, nachdem sie das Abendessen bereitet hatte, er dann seinen Teller nahm und eine Flasche Bier aus dem Kühlschrank und damit dann ins Wohnzimmer entschwand. "Sportschau".

Dabei war er gar kein Egoist. Wenn es etwas zu tun gab, musste sie selten zweimal bitten. Klaus machte. Und er machte es auch noch ordentlich.

Darüber hinaus hatten sie gemeinsam eigentlich nur noch wortkarge Frühstücke und die Urlaube - Berührungen gab's schon lange nicht mehr, auch keine Träume. Und Nähe war durch Gewohnheit ersetzt.

Anna war froh über ihren Entschluss. Es würde nicht einfach sein, niemand würde sie verstehen. Trotzdem würde sie schon heute damit beginnen, diesen Weg zu gehen. Denn viel zu stark schon war die Sehnsucht in ihr, endlich wieder gesehen zu werden ...

von Ernu

Vielleicht Rosen? – II

3. Dezember 2018 in Weblogs

Es ging ihm besser jetzt nach diesem Gespräch. Aber er musste sich nun auch sputen, um noch vor sechs ins Blumengeschäft zu kommen. Deshalb war er ein wenig atemlos, als er der Floristin gegenüber stand. „Ich brauche einen Strauß für meine Frau im Krankenhaus“, sagte er und deutete dabei auf ein großes Gebinde roter Rosen.

„Fürs Krankenhaus?“, blickte ihn die junge Frau skeptisch an. „Wissen Sie was? Ich mache Ihnen einen Vorschlag: Diesen Strauß stellen Sie ihrer Frau hin, wenn sie wieder nach Hause kommt. Und fürs Krankenhaus nehmen wir einen kleineren Strauß, ja? Was sind denn die Lieblingsblumen Ihrer Frau?“

Tja, da stand er nun. „Ähhh … eigentlich mag sie alles so. Irgendwie.“

„Nein“, lächelte sie, „fast jede Frau hat ihre eigene Blume, die ihr etwas Besonderes sagt.“

Arndt gniedelte an seinen Fingernägeln und überlegte.

Und überlegte.

„Kann ich mal schnell telefonieren?“

„Selbstverständlich!“

„Christine, du, sag mal …“, legte danach auf und schmetterte der Floristin fast ein „Veilchen“ entgegen.

„Da hamse Glück“, lächelte sie ihn wieder an, „kleinen Moment“, und ging nach hinten, um nach kurzer Zeit mit einem kleinen, hübsch gebundenen Sträußchen zurück zu kehren.

Arndt war erleichtert und begeistert und rannte dann prompt mit seinem Strauß gegen die Tür, die sich nur nach innen öffnete. Ein verlegenes Lachen und dann raus auf die Straße.

Zuhause legte er die Blumen auf die Flurkommode, dann ging er ins Schlafzimmer, um den dunkelblauen Anzug anzuziehen, in dem Elli ihn immer so stolz anschaute. Wie war das noch mit der Krawatte …?

Dreißig Jahre hatte Elli ihm die Krawatte gebunden, seine eigenen Finger waren einfach zu wurstelig dafür. Und nun stand er da. Aber irgendwie kriegte er den Knoten gebunden – zwar ein wenig schief und unförmig, aber immerhin.

Nun die schwarzen Schuhe an und ein Taxi gerufen.

Nervös stand er auf der Straße. Doch der schwarze Wagen ließ nicht lange auf sich warten. Arndt ließ sich in den Sitz plumpsen, „ins Städtische bitte“, und dort angekommen merkte er, dass seine Hände leer waren.

30 Minuten später stand er dann erneut vor dem Portal. Schwitzend. Und so richtig eine Ahnung, wie er den kleinen Blumenstrauß halten sollte, hatte er immer noch nicht.

Seufzend schaute er die Fassade empor, bevor er die Halle betrat und Ellis Zimmernummer im dritten Stock erfragte. Rein in den Fahrstuhl, hochgefahren, und dann stand er da, vor Ellis Zimmertür. Ganz zart klopfte er mit seinen Riesenhänden, wartete und nestelte an seinem Blumenstrauß. Dann erneutes, lauteres Klopfen und ein zweistimmiges „Herein“ darauf.

Drei Betten sah er, zwei davon belegt, und Elli in einem von ihnen. Zaghaft ging er auf sie zu, und seit langem wieder spürte er ihre Augen. Am liebsten wäre er hingelaufen, um sie in den Arm zu nehmen und zu weinen. Aber dies war ja ein Krankenhaus – und dann stand er doch vor ihrem Bett: „Was machst du nur für Sachen?“

Sie lächelte ihn an. „Gut siehst du aus – sind die Blumen für mich?“

Er hatte vergessen, sie aus dem Papier zu nehmen. Verlegen begann er, das jetzt nachzuholen, riss etwas heftig mit seinen großen Händen, und hielt ihr dann die Stiele mit ein paar Blüten dran entgegen.

Sie schien den Tränen nahe. Er ärgerte sich, und ihm war’s peinlich und wollte die Blumen gerade hinter seinem Rücken verstecken, als sie leise sagte: „Lass, Arndt. Das ist der schönste Strauß, den ich je bekommen habe …“

von Ernu

Vielleicht Rosen? – I

3. Dezember 2018 in Weblogs

Arndt fühlte sich wie gelähmt. Aus dem Telefonhörer, den er immer noch in der Hand hielt, tönte ein hohles „Düüd-düüd-düüd“, das ihn gar nicht erreichte.

Fast dreißig Jahre war er täglich nach Hause gekommen, und sie war da. Elli hatte für ihn gekocht, sie hatten gemeinem gegessen und sich dann vor den Fernseher gesetzt. Dreißig Jahre! Er kannte es gar nicht anders als dass sie immer da war.

Abends der Kuss zur Begrüßung, morgens zum Abschied das streicheln über ihren Po – ein Ritual, das beiden etwas bedeutete, weil sie sich lachend verabschieden konnten. Seit dreißig Jahren.

Nie hatte Arndt auch nur einen Gedanken daran verschwendet, wie es wäre ohne sie. Sie war zuverlässig immer da. Wenn er morgens aufbrach in die Schlosserei stand schon immer seine Tasche bereit. Vier belegte Brote, ein Apfel oder eine Orange, eine Flasche Bier. Über dreißig Jahre.

Er hatte das so „mitgenommen“, weil es immer war wie immer. Und nun war es plötzlich anders. Elli war gestürzt und lag mit einem Oberschenkelhalsbruch im „Städtischen“. Der Anruf war sachlich, trotzdem glaubte er erst, er hätte sich verhört.

Ja, es war schon komisch, nach Hause zu kommen und niemand war da. Das hatte er noch nie erlebt. Die Wohnung wirkte dunkler und fast kalt. Und dann klingelte auch schon das Telefon, bevor er auch nur seinen Mantel ausziehen konnte.

Und immer noch glaubte er der Stimme der Staionsschwester nicht und war sicher, Elli würde gleich in ihrer Kittelschürze aus der Küche kommen. Oder aus dem Schlafzimmer.

Arndt legte den Hörer auf und ging dann durch die Wohnung. Leer das Wohnzimmer, leer die Küche, leer das Schlafzimmer und leer das Schreibzimmer, das früher Kinderzimmer war.
Sämtliche Kraft schien aus ihm gewichen.

Arndt war das, was man einen „Bär“ nannte. Schultern wie ein Kleiderschrank, Hände wie Baggerschaufeln, und jetzt doch nur ein ratloses, kleines Häufchen Elend - so stand er eine ganze Zeit im Flur, zunächst unfähig, überhaupt zu denken.

Christine! Er würde Christine fragen. Seine Tochter wusste Rat, davon war er überzeugt.

„Mutti ist im Krankenhaus …“, begann er gleich, als er sie am Telefon hatte, und es schnürte ihm die Brust zusammen. Aber es war auch gut, ihre Stimme zu hören. Er musste sich zwar anfangs regelrecht zusammenreißen, um ihr zuzuhören, aber sie fragte ihn so lange, bis er alles erzählt hatte, was er wusste. Und irgendwie tat ihm das gut.

„Papa, nun mach‘ dir mal keine Sorgen. Im Krankenhaus wissen sie schon, was sie machen müssen, da ist sie gut aufgehoben. Ich ruf‘ gleich nochmal an und rede mit ihnen, und du gehst hin und bringst Mutti ein paar Blumen.“

Am Wochenende wollte sie dann selber kommen; sie wohnte fast 300 Kilometer entfernt.

von Ernu

Horst

3. Dezember 2018 in Weblogs

Fast jeden Tag begegne ich ihm. Horst ist so was wie ein Original für mich. Im Sommer sitzt er in seinem abgeschabten Jeansanzug auf dem Marktplatz. Meist hat er eine Dose Bier in der Hand, und sein Kofferradio ist immer dabei. Winters zieht er mit tausend Tüten und Taschen bepackt durch die Stadt, hin und wieder sehe ich ihn bettelnd an einer Straßenecke sitzen.

Was mich an Horst fasziniert sind seine Augen. Sie entsprechen nicht seinem Äußeren. Er geht gebeugt, ein wenig schleppend. So, als hätte er stets eine Last zu tragen die ihn erdrückte. Doch die Augen sind kraftvoll und beweglich. Staunend beobachte ich oft, wie der Film der Trunkenheit, der fast immer über ihnen liegt, das Leuchten von Liebe zu verstärken scheint. So blickt er geradezu zärtlich zu mir auf, wenn er mich um eine Zigarette bittet.

Mich fasziniert dieser Blick, weil er für mich so unerwartet aus diesem Menschen kommt. Horsts Augen blicken so liebevoll, so offen und so treu, wie ich es nur von einem Hund kenne. Oder von einem Kind.

Horst ist nicht unglücklich. Sagt er.
Er wäre unabhängig.

Horst ist nicht arm. Sagt er.
Gerade weil er nichts besäße, was man ihm nehmen könnte, wäre er einer der reichsten Menschen.

Horst ist nicht einsam. Sagt er.
Nirgends sonst könnte er auf so viele warme Menschen treffen wie in seiner Situation. Den kalten widmet er keinen Gedanken.

Horst hat keine Sorgen. Sagt er.
Und er sagt das in der Gewissheit eines Menschen, der den nächsten Tag kommen lässt, um – wie an jedem Morgen – sein Leben neu zu beginnen.

Horst denkt nicht an die Zukunft. Sagt er.
Er lebt im Jetzt. Und im Jetzt gibt's auch keine Vergangenheit.

Dabei ist seine Vergangenheit erstaunlich. Chefarzt einer Privatklinik, Haus und Familie in Hamburgs Elbchaussee. Dann der Vorwurf des Drogenhandels. Gefängnis. Danach der gesellschaftliche Abstieg, dann der Ausstieg. Und mit dem Ausstieg wurde er zum Gewinner.
Sagt Horst.

Wenn Horst spricht, spricht er wie ein "Penner" – wenn er redet, redet er gepflegt. Seine Klugheit und seine Weisheit machen staunen. Man hat das Gefühl, er hätte die ganze Welt gesehen. Dabei sind es nur die Menschen, die er kennt.

Es ist leicht, Horst eine Freude zu machen. Eine Zigarette, 'n Euro oder auch nur ein freundliche Lächeln oder Winken über die Straße. Horst nimmt, was man ihm gibt. So zufrieden ist er.

Das, was Horst nicht nimmt, ist meine Hand.

Die braucht er nicht.

Sagt Horst.

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