Windpocken
Lennart ist fünf. Er hat seit ein paar Tagen die Windpocken und ist sehr stolz darauf. Er steht ganz im Mittelpunkt, alle laufen besorgt um ihn herum, fragen ihn dauernd nach seinem Wohlbefinden und verwöhnen ihn. Er darf nicht in den Kindergarten, das trägt zur Steigerung seines Behagens bei. Nicht, dass er ungern in den Kindergarten geht, aber jetzt muss er zuhause bleiben und seine erlaubte Verweildauer vor dem Fernseher hat sich erhöht.
Bereitwillig zeigt Lennart allen seine roten Flecken. Als Oma kommt, zieht er sogar stolz die Hose runter und zeigt ihr voller Stolz ein Pustelchen an seinem Pimmelchen. Ausgerechnet an seinem besten Stück. (Dass das sein bestes Stück ist, weiß er zwar noch nicht, aber er scheint es insgeheim zu ahnen, schließlich schlummert ein schickes Mannsbild in ihm.)
Lennys Freude an seinen Windpocken wäre ungetrübt geblieben, wenn da nicht die Sache mit Lilly gekommen wäre. Lilly ist drei und hat noch keine Windpocken gehabt. Lillys Eltern und Lennarts Eltern sind gut miteinander befreundet.
Lillys Eltern sind moderne Eltern. Da werden nicht nur Urlaub und Kinderkriegen geplant, sondern neuerdings auch die Krankheiten der Kinder. Und da Lillys Mutter demnächst wieder arbeiten gehen will, wäre es sinnvoll, wenn man die Sache mit den Windpocken bei Lilly vorher vom Tisch hätte. Irgendwann kriegt Lilly sie sowieso und jetzt wäre es gerade günstig. Was liegt da näher, als sich Lilly bei Lenny anstecken zu lassen.
Lillys Mutter ist Ärztin und meint, diese Infizierung geschehe durch Tröpfchenübertragung. Am sicherten bewerkstellige man das durch einen Kuss der beiden.
Lennys Vater übernimmt die schwere Last, den Kronsohn auf diese verantwortungsvolle Aufgabe beim anberaumten Besuch von Lilly vorzubereiten. Feinfühlig wird Lenny eröffnet, dass er Lilly küssen dürfe. Welch ein erfreuliches Angebot, an sich. Ich habe in meinem ganzen Leben nie eine Frau mit diesem verführerischen Namen kennen gelernt. Schon wegen dieses fabelhaften Namens wäre sie des Küssens wert gewesen. Für Lenny aber kommt dieses traumhafte Angebot leider 10 bis 12 Jahre zu früh. Er schüttelt sich empört, sagt verächtlich: Bäähh! und wendet sich ab.
Mama küsst man und Omi küsst man, aber doch nicht Lilly. (Machen Sie einem Fünfjährigen klar, dass das Küssen von jungen Damen auch für Pimmelchen eine überaus erholsame Wirkung haben kann.)
Nun probiert Omi mit ihren an mir geschulten Überredungskünsten bei ihrem Enkel ihr Glück. Sie erklärt ihm was von Ansteckung und dass diese am besten über Spucke funktioniere. Lenny hört aufmerksam zu und stellt dann sachlich fest:
Dann reicht es doch, wenn ich sie anspucke
.
Lennart bleibt auch am Tage des Besuches trotz aller Bemühungen hart.
Selbst Bestechungsversuche: Dann darfst Du morgen Pan Tau gucken
 fruchten nichts. Anfälligkeit für Korruption wäre bei seiner untadeligen Ahnenreihe auch verwunderlich gewesen.
So wird der Besuch anscheinend von einer frostigen Atmosphäre zwischen Lenny und Lilly überschattet. Küssen will Lenny nicht und spucken darf er nicht. So reist man unverrichteter Dinge wieder ab. Meint man. Kurz danach kriegt Lilly die Windpocken. Sollte Lenny etwa doch in einem unbewachten Augenblick
??
©Dr. Jörg Hellmann
		
Lieber Herr Dr. Hellmann,
kann es wirklich sein, dass Ihrer Familie nicht bekannt ist, dass Windpocken allein durch die Luft schon ansteckend sind? Der Krankheit kann man nicht entgehen, wenn man mit einem derartig Kranken zusammenkommt.
Aber vielleicht sollte das nur der Gag in der Geschichte sein. Das verstehe ich natürlich.
🙂 die Geschichte ist zauberhaft und gelungen. Und die Pointe hinreißend. Lassen wir doch den ganzen medizinischen Sachverstand beiseite und freuen uns einfach daran, wie feinfühlig Jörg Hellmann erzählen kann. 🙂
Man sieht den kleinen Kerl direkt vor sich, wie er voller Stolz seine Windpocken zeigt.
Es ist beglückend, wenn man seine Enkel unmittelbar erleben kann. Die Erlebnisse schriftlich festzuhalten ist eine doppelte Freude.
silver-surferin