Eine Feier für Maria

Maria war immer klein und zierlich gewesen – und still. Nun lag sie da, völlig verstummt, bleicher und zarter denn je, eingedeckt und umgeben von Spitzenrüschen und einem überreichen Blumenflor. Die immer ergebene Duldsamkeit in ihren Zügen war einem erschöpftem, doch zufriedenem Lächeln gewichen.
Trauerhallen-Atmosphäre, der süßliche Geruch nach Blumen und Tod wirkt immer bedrückend, und man drückt sich gern vor Feierlichkeiten dieser Art, wenn man kann. Ich konnte es nicht. Maria war meine Nachbarin. Nie im Leben hatte sie so viel Blumen, mit denen man sie jetzt ehrte, auf ihrem Tisch oder in ihrem Garten gesehen.
"Gemüse bringt mehr Geld", war Gottliebs Devise. Und so säte Maria Radieschen und Möhren, pflanzte Blumenkohl und Salat, Kohlrabi und Tomaten – rotleuchtende, aromatische Früchte.
An warmen Tagen lag ich oftmals im Liegestuhl, um ein wenig auszuspannen, doch der Anblick Marias im Nachbargarten ließ mich nicht zur Ruhe kommen. Es störte mich, wenn sie vor meinen Augen Rüben hackte oder Mais schnitt für die Schweine und Kohlblätter für die Kaninchen. Flüchtete ich vor der sengenden Mittagssonne ins Haus, zog Maria den mit Gemüsekisten vollbeladenen Handkarren zur Sammelstelle. Und irgendwann zwischendurch hatte sie blitzsaubere Wäsche zum Trocknen in den Hof gehängt.
Gottlieb machte ihr auf seine Weise den Hof. Nachmittags kam Gottlieb von der Arbeit. Dann verschwand Maria für eine Weile im Haus und richtete ihm das Essen. Gottlieb arbeitet als Dreher, und bei ihm geht es auch nach Feierabend rund. Die Thermosflasche mit Kaffee unterm Arm und ein Stück Kuchen in der Hand, sah man beide kurz darauf auf dem Feld. Aber, oh je, Maria hatte vergessen, den Blumenkohl zu wässern, und das Unkraut zwischen den Erdbeeren stand knöchelhoch. Gottlieb war ungehalten. Doch er war kein Unmensch, er legte eine zweite Schicht ein und half Maria, das Versäumte nachzuholen.
Täglich zur gleichen Stunde brachte Maria mir frische Hühnereier. Einmal kam sie dazu, als ich gerade vor dem Spiegel mein 'Kleines Schwarzes' anprobierte. "Man kann es zu vielen Gelegenheiten tragen", sagte ich und dreht mich vor ihr, "zu einem Konzert- oder Theaterbesuch, aber auch abends in der Bar." "Elegant", staunte Maria, und verschämt lachend fügte sie hinzu: "Für so etwas hätte ich überhaupt keine Verwendung.
Jedes Jahr, wenn Robert und die Kinder den Wagen beluden für unsere große Ferienreise, stand Maria am Zaun und rief: "Nächstes Jahr fahren wir auch in Urlaub!" Jedes Jahr sagte sie das. Aber dann wurde es ein schlechter Sommer, entweder zu trocken oder zu nass, und die Ernte war in Gefahr. Nein, in diesem Jahr würde man doch nicht fahren können, es standen immerhin ein paar Tausender auf dem Spiel.
Wenn das Land abgeerntet war und umgebrochen werden musste, holte Gottlieb an einem schönen Herbstsonntagmorgen, kurz nachdem die Familie aus der Kirche gekommen war, seinen 'Pflug' aus dem Schuppen - ein hölzernes, vorsintflutliches Gerät. Maria ließ sich willig von Gottlieb die Gurte umlegen und nahm die Zugleine, die vom Pflug über ihre Schulter führte, fest in beide Hände, und ich wäre nicht sonderlich erstaunt gewesen, wenn er, nachdem er die zwei Holme ergriffen hatte, um mit ihnen die Spitze des Pflugs in die harte Erde zu drücken, "Hü!" oder "Hott!" geschrieen hätte. Er sagte nur "Los!" Und Maria zog los – weit nach vorn gebeugt, mit den Knien fast den Boden berührend, stapfte sie mit ihren schweren Stiefeln durch die Erde. Acker rauf und Acker runter, Furche um Furche zog das seltsame Gespann. Robert hatte Kaffee gekocht und wir frühstückten auf der Terrasse. Zwischen der Hecke tauchte immer wieder die grasgrüne Jacke und Marias rotes Kopftuch auf. Immer trug sie diese grüne Jacke, und das rote Kopftuch schützte sie vor Regen, Wind und Sonnenschein. Niemals trug sie etwas anderes. Nur heute. Heute hatte man ihr ein weißes Spitzenkleid angezogen.
"Das hat sie sich verdient", sagte Gottlieb später auf der Beerdigungsfeier. Er hatte die Trauergäste nicht etwa nach Haus oder in den Dorfgasthof gebeten. Aber nein, etwas vornehmer sollte es schon zugehen. Er mietete den Saal eines idyllisch in der Nähe des Schlosses gelegenen Waldrestaurants, von dem Maria immer so geschwärmt hatte. Dort feierte er bis spät in die Nacht Beerdigung. Das war er Maria schuldig. Jeder sollte tüchtig zulangen. Aufs Geld, sagte er, käme es ihm heute nicht an. Heute nicht. Wofür sonst hatte er sein Leben lang gearbeitet und gespart.

Ich sehe Maria, wie sie bei Sonnenaufgang ihre dünnen Finger in die Spargelhügel gräbt, vorsichtig tastend das Messer ansetzt, und wie sich langsam, sehr langsam ihr Körbchen füllt. Die grüne Jacke spannt sich über den gebeugten Rücken, die roten Zipfel ihres Kopftuches flattern im Wind.......
"Ein Jammer", sagt Gottlieb und schneuzt sich die Nase, "wirklich ein Jammer, dass sie diese herrliche Feier nicht mehr erleben konnte."

Ähnliche Beiträge

Himmlische Gedanken

Schwester Gisela erklärt,warum Rituale unsere Herzen berühren. Weihnachten ist ein tolles Fest.Da gibt es für den Geruchsinn-und Geschmackssinn viel Verführerisches:Zimt-und Bienenwachsduft strömen durch Wohnungen.Lichterketten und…

Kommentare

Verstoß melden

Schließen