Der Lauf der Zeiten

Im äußersten Südwesten Frankreichs liegt die historische Region Aquitanien. Weite, von mächtigen Dünen gesäumte einsame Strände am Atlantik laden dort zum Wandern ein. Wer sich in diese Welt aus Sand und Meeresrauschen begibt und seine Sinne ganz auf das Singen des Windes und das Donnern der Brandung lenkt, vergisst Raum und Zeit. Der ewige Wechsel des Gezeitenstroms bestimmt hier den Verlauf der Grenze zwischen Land und Meer und bei klarem Wetter wölbt sich ein meist wässerig-blauer Himmel bis zum Horizont. Vor sich hin modernd, auf Weisung der Nazis errichtete Bunker trotzen hier wie gestrandete Urwelttiere der Brandung, ganz so als wären sie unvergänglich. Die wenigen, einsam am Stand wandernden Menschen verlieren sich vor der tosenden Brandung in den sandigen Massen. An einem dieser Strände liegt geheimnisvoll der gebrochene, hölzerne Kiel eines Bootes. Dort am Strand im Südwesten Frankreichs haben die hölzernen Reste des Bootes die Zeiten überdauert. Die geborstenen Spanten recken sich wie anklagend gegen den Himmel und der ewig wehende Wind treibt Sand wie einen feinen Schleier über das hölzerne Gebilde. So vergeht Jahr für Jahr und wenn sich die Strömungen des Ozeans nur leicht verändern, verschwinden die Bootsreste unter den Sandmassen, die die Brandung gegen Strand wirft. Das Boot verschwindet aus dem Blickfeld der seltenen Wanderer – spurlos, wie aus dem Gedächtnis gelöscht. Unerwartet und vom Anblick überrascht erblickt der einsame Wanderer nach einer Sturmnacht die wieder freigespülten Reste des Bootes; wie von Geisterhand an den Strand geschleudert. Die geborstenen Spanten, inzwischen vom ewig malenden Sand rundgeschliffen, strecken sich wie eh und je anklagend gegen den Himmel. Unheimlich, wenn sie bei verhangenem Himmel aus den Nebelschwaden nur wenige Schritte vor dem Wanderer auftauchen; als Landmarke, wenn sich wässerig blau der Himmel über den Stand dehnt und der Wanderer aus großer Entfernung undeutlich ein scheinbar unbestimmbares Gebilde in den Sandmassen ausmacht. Je mehr sich der Wanderer dem Gebilde nähert, umso deutlicher heben sich die gebrochenen Spanten, die einst ein seetüchtiges Boot formten, von den Sandmassen vor dem sich wölbenden Himmel ab. Fragt man die Bewohner der wenigen öden Orte des Hinterlandes nach der Herkunft des Wracks, ist die Antwort ein Schulterzucken. Aus dem Gedächtnis der Menschen gelöscht, ist das Schicksal der Insassen. Jeder Hinweis auf die letzten Passagiere ist im Dunkel der Geschichte untergegangen. Waren es Fischer, denen es in einer der gefürchteten Sturmnächte der Biskaya nicht mehr gelang den rettenden Hafen von Pointe de Grave oder Port Richard zu erreichten? Waren es Pilger, auf dem Weg nach Santiago de Compostela, die auf der Überfahrt nach Soulac-sur-Mer im Sturm den Hafen verfehlten, hier strandeten und in der Brandung umkamen? Hatten sie geplant ein Dankgebet in der Kirche Notre-Dame-de-la-Fin-des-Terres zu sprechen und um weiteren Beistand zu bitten, bevor sie sich auf den beschwerlichen Fußweg in das ferne Galicien machten? Waren es Auswanderer, ausgelaufen in La Rochelle, Saint-Nazaire oder einem anderen Hafen der Küste, deren Schoner mit gebrochen Masten kenterte und die keine Chance hatten das Boot mit brechenden Riemen durch die Brandung zu bringen? Waren es Flüchtlinge, die auf dem Seeweg Rettung im nahen Spanien suchten und hier den Nazis und ihren Schergen in die Hände fielen? Waren es gar Kämpfer der Résistance, die in einer ebenso sinnlosen wie verwegenen Aktion versuchten die Besatzer von See her anzugreifen? Waren es zwei Liebende, die sich mit letzter Kraft an den Strand retteten und in den nahen Wäldern Schutz vor den Verfolgern fanden? Niemand kennt die Antwort – allenfalls ein erfahrener Bootsbauer könnte aus Bauart und Zustand der Reste, Art, Herkunft und Alter des Bootes bestimmen. Generation auf Generation wird vergehen; unbeeindruckt davon bleibt die Zeit. Zeit gebiert Zeit, sie dehnt sich ins Unendliche oder scheint zu rasen und die Menschen ordnen sich diesem Rhythmus unter. Eines fernen Tages, wenn die Nazibunker durch das Aufquellen rostender Moniereisen geborsten sind, der Beton durch die Macht der Brandung zu Sand zerbröselt ist, wird vielleicht ein liebendes Paar über diesen Strand wandern – junge Menschen, bei denen sich die Hoffnung auf die Zukunft und die Angst, vor dem was sein könnte die Waage halten oder ein altes Paar dem das Schicksal ein langes gemeinsames Leben geschenkt hat – und unter den Füßen ein leichtes Knacken verspüren. Sie werden den Blick auf ihre Füße richten und sehen, durch ihre Schritte ist ein unauffälliges Stück Treibholz zerbrochen. Sie fassen sich an den Händen und gehen weiter durch den weichen Sand, lauschen dem Donnern der Brandung und dem Singen des Windes; nicht ahnend, dass unter ihren Füßen der letzte Rest eines Bootes zerbrochen ist, welches vor unendlich langer Zeit an diesem Strand scheiterte.

Das Original der Geschichte findet Ihr hier

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