Wie ich den Fall der Mauer erlebte (mit Fortsetzung)

Ein wunderschöner Herbsttag hatte mich noch einmal in das schöne Münstertal gelockt, wohl zum letzten Mal, denn in 6 Tagen ging meine Kur in Badenweiler zu Ende. Der Wetterbericht im Radio , von dem ich vor einer halben Stunde noch etwas mitbekommen hatte, sprach zwar vom ersten ausgiebigen Schneefall im Schwarzwald in der letzten Nacht, aber hier im Tal war davon noch nichts zu sehen. Ich wurde aber eines besseren belehrt, als ich den Weg an einem Berghang einige hundert Meter hinauffuhr: plötzlich war alles um mich herum weiß, und hart gefrorener Schnee und Eisglätte ließen eine Weiterfahrt trotz Winterreifen nicht als sinnvoll erscheinen. Also umkehren. Außerdem war es hier oben schon recht kalt. Unten im Tal versprach ein freundlicher Gasthof „Zum Hirschen“ Aussicht auf eine heiße Tasse Kaffee. Der Innenraum war hell erleuchtet, man wartete also schon auf Gäste. Wollte nur noch schnell mal im Autoradio die 10:00 Uhr - Nachrichten und vor allem den Straßenzustands-bericht hören.
Und was hörte ich? Die Mauer in Berlin sei gefallen! Am Abend vorher schon. Wie folgenreich diese Mitteilung war, habe ich anfangs kaum wahrgenommen, dachte nur an einen Panzer, der vielleicht dagegen gefahren war. Die weitere Nachricht ließ mich jedoch aufhorchen: „Die Grenzübergänge in Berlin sind jetzt alle offen und können ab sofort und ohne besondere Genehmigung passiert werden.“ Mit zitternder Hand bediente ich den Sender-Suchknopf, um die Meldung auch von anderer Seite bestätigt zu bekommen. Aber überall das gleiche, es war also keine Fehlmeldung. Einen Fernseher müßte man jetzt haben. Der nächste für mich zugängliche Apparat stand in unserer Klinik Fürstenhof in Badenweiler. Die Fahrt dorthin hätte mir wegen mehrmaliger Geschwindigkeitsüberschreitung bestimmt eine ansehnliche Geldstrafe und einige Punkte in Flensburg eingebracht. Aber es ging alles gut.
Der Fernsehraum in der Klinik war übervoll und meine Frage, was denn nun genau passiert sei, wurde nur mit einem eindringlich mahnenden „Pschschscht!“ abgeurteilt. Auf dem Bildschirm sah man Leute in vollbesetzten Trabbis, die sich durch begeisterte Menschenmassen zwängten. Andere kamen zu Fuß durch die Maueröffnung. Man lag sich in den Armen, war offensichtlich vor Freude außer sich. Allmählich begriff ich, welch` ein historisches Ereignis sich vor meinen Augen abspielte, denn immer wieder wurde die inzwischen allseits bekannte Pressekonferenz mit der maßgebenden Äußerung eines Herrn Scharbowski eingespielt. Und die Deutung des Begriffes „unverzüglich“ machte die Runde. Ungefähr eine Stunde hatten wir die Bilder in ihrer ganzen Faszination verfolgt, bis jemand das Licht im Raum einschaltete.
Es wurde ruhiger unter den Zuschauern, jeder war in sich selbst gekehrt und versuchte, das Erlebte zu verarbeiten. Viele hatten Tränen in den Augen, andere weinten.
So habe ich – wenn auch mit Verspätung – die Öffnung der Mauer erlebt.
Vier Tage später, also am 14. 10. trat ich die Heimreise an, mit dem Auto von Badenweiler aus in Richtung Norden. Und, siehe da, die Grenzöffnung hatte sich auch auf den Autobahnverkehr ausgewirkt, denn alle Augenblicke traf man einen in gleicher Richtung tuckernden Trabbi oder einen Wartburg, beide schon von Weitem an der markanten weißen Rauchfahne am Auspuff zu erkennen! Meistens waren die Fahrzeuge voll besetzt mit neugierig aus den Seitenfenstern blickenden Reisenden, die jedes kurze Winken des überholenden Fahrers enthusiastisch erwiderten. Viele werden damals sicher zum ersten Mal das „gelobte Land“ Westdeutschland erlebt haben. Oder man hatte den seit nunmehr über 40 Jahren überfälligen Besuch eines westdeutschen Verwandten endlich verwirklichen können. Ich wurde nachdenklich, und die in den meisten Trabbis gezeigte Fröhlichkeit wollte sich bei mir einfach nicht einstellen. (Fortsetzung folft)

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Kommentare

  1. Habe gebannt deinen Beitrag hier gelesen. Erinnerungen wurden in mir wach und erzeugten wieder wie damals eine Gänsehaut. Es ist erstaunlich was man erreichen kann wenn man zusammenhält. Ich habe heute noch Hochachtung vor diesen Menschen die damals auf die Straße gegangen sind.
    Dein Beitrag hat mich beeindruckt.
    Liebe Grüße casu aus dem Schwabenländle

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