Abschied

18. August 2010 in Weblogs

Abschied (aler)

Eingebettet zwischen Rhin, dem Gülper See und der Havel liegt verträumt unser schönes kleines Dorf Strodehne. Zum Ort führt nur eine fast 10 km lange Strasse mit Steinkopfpflaster. Links und rechts ragen grosse Bäume gen Himmel. Dahinter sind Wiesen, Felder und Sumpf. Wenn man gen Westen wollte, musste man die handgetriebene Fähre benutzen.
Januar 1945: In jenen Zeiten wurde unser Dorf durch die Kriegswirren arg gebeutelt. Man wusste nicht mehr, was für einer Nation die im Augenblick anwesenden Soldaten angehörten.
Doch dann waren plötzlich nur noch Deutsche Sodaten da. Englische Flieger donnerten über unsere Köpfte hinweg. Am Fluss auf einem kleinen Hügel stand die Flack und die Soldaten versuchten, die Flieger zu treffen. Ein paar Tage später waren plötzlich die deutschen Soldaten weg. Das Gerücht ging um: Die Russen kommen!.Von Denen hört man nur Schlechtes. Und man erzählte von Flüchtlinge. Was tun? Dorfbewohner rannten umher, trafen sich und diskutierten. Meine Mutter entschied sich: Sie wollte mit uns drei Kindern weg. Ihre Eltern wohnten in Gelsenkirchen. Sie packte das Nötigste zusammn, nahm unsKinder (7,6,5 Jahre alt) und ging.
Es war bitter kalt, doch die Angst trieb uns voran. Wir balancierten über den schmalen Steg der Wehranlage der Havel. Ich weiss nicht mehr wie, aber wir landeten in einem mir unbekannten Ort am Bahnhof. Hier spielten sich dramatischen Szenen ab. Auf dem Gleis stand ein sehr langer Güterzug. Die Waggons waren ohne Dach. Deutsche Soldaten gaben schreiend Befehle und dirigierten Männer, Frauen und Kinder in diese Waggons. Einige fielen vor Schwäche hin. Sie wurden angbrüllt: "Schneller! Schneller! Auf! Auf!" . Kinder schrien, ein älteres Paar hielt sich krampfhaft an den Händen. Mutter fragte einen einsteigenden Mann, ob der Zug Richtung Dortmund oder Gelsenkirchen fährt. Um uns herum sagte Einige: "Ja!". Wir schlossen uns den Leuten an. Männer, die schon auf dem Waggon waren, zogen uns an den Armen hoch. Zusammengefercht standen alle ruhig, schwach vor Hunger und frierend im Wagen. Die Lok dampfte, fauchte und pfiff. Der Zug setzte sich langsam in Bewegung. Plötzlich schrie Mutter.
"Wo ist meine Tochter?" Nebenstehende sahen sich um. Einer schrie: "Auf dem Bahnsteig steht ein kleines Mädchen!" Mutter nahm uns, helfende Hände halfen uns beim Abspringen. Wir umarmten uns, während die letzten Waggons immer noch im schritttempo an uns vorbeifuhren. Am Ende des Bahnsteigs im knöchelhohem Schnee standen wir da. Der Bahnhof war fast menschenleer. Ein Soldat winkte. Er führte uns in die Wartehalle zu Einem, der mehr zu sagen hatte. "Wo ist Euer Abzeichen?" "Was für ein Abzeichen?" "Na, der Stern der Juden!" "Wieso Juden? Was ist denn das? Wir haben keinen Stern." Ein Danebenstehender sagte: " Wieder einige hundert zum Ofen. Ihr habt Glück gehabt."Nie werde ich diese Sätze vergessen!
Wir wurden von den Soldaten zu einer Sammelstelle für Flüchtlinge gebracht.

Erst später wurde mir bewusst, was da eigentlich geschehen ist. Ich hatte die gelben Zeichen gesehen aber deren Bedeutung nicht gekannt. Wir hatten noch nie von Juden gehört. Heute noch denke ich oft an diese Geschichte und sie geht mir immer noch nach. Oft denke ich an diese mir fremden Menschen und an den Abschied in den Tod. Sie alle glaubten wohl, der Zug fährt ins Ruhrgebiet.

Der Abschied von unserem Dorf schmerzte, doch der Abschied von den Leuten im Zug ist mit Nichts zu vergleichen. Was wäre, wenn wir im Zug geblieben wären?

Ein Text von: aler