Zum Tag der deutschen Einheit: LETZTE GRENZÜBERSCHREITUNG
Endlich war auch für uns Wessis die Grenze in Richtung Osten offen. Die Grenzstation sieht noch aus wie vor achtundzwanzig Jahren: Noch durchschneidet eine hohe Trennwand den Bahnsteig; hier die Züge in die DDR, drüben die nach Westen. Immer noch schnüffelnde Hunde und bewaffnete Grenzer. Was soll das alles noch? Wird hier Schmierentheater gespielt, weil man noch nicht weiß, wohin mit Kulissen und Akteuren?
Türen werden zugeschlagen, andere aufgerissen. Passkontrolle der DDR! Der alte Grenzer studiert meinen Pass: Die vielen Stempel in meinem Pass machen ihn noch skeptischer. Fast habe ich Mitleid mit ihm; was kann er dafür, dass jetzt alles über ihm zusammenbricht, dass er sich an ein Ritual klammert, um nicht den letzten Halt zu verlieren?!
Ein junger Grenzer mit Milchbubengesicht fragt "Sie leben in London!? Was es alles gibt! Wohlwollend schaut er mich an. Eine robuste, dralle Zöllnerin mit sächsischem Dialekt streift ihn mit missbilligendem Blick. Akribisch durchsucht sie mein Köfferchen, drückt mir schließlich wortlos meinen letzten Stempel mit DDR-Hoheitszeichen in meinen Pass. Was wird die Frau in ein paar Monaten machen? Abgewickelt arbeitslos oder beim Staats- und Klassenfeind integriert und dann das vereinte Land an der polnischen oder tschechoslowakischen Grenze schützend?
Leipzig Hauptbahnhof! Am Ende des Bahnsteigs steht ein weiß gekleideter Mann und verkauft Bild-Zeitungen. Dieses weiß-rote Bildzeitungsmännchen auf dem Leipziger Hauptbahnhof, haben das die Ossis verdient?
Im Bahnhofsrestaurant als Salatbeilage noch immer geriebenes Weiß- und Rotkraut in Essig und Öl zu den Klößen mit Sauerbraten. Die Kellnerin steckt mein Westgeld wortlos ein.
Am Tresen ein Mann um die Dreißig in einer Windjacke; er torkelt und gestikuliert Wir warn doch geene Verbrecher nich! Wir ham doch für die DDR gearbeetet! Für unser Land! Unn jetze? Nu sinn wer wie der letzte Arsch! Fragend schaut er mich mit glasigem Blick an. Was soll ich ihm antworten?
Im Bummelzug zwei junge Glatzköpfe in Springerstiefel und mit Bierflaschen. Wo kommen die denn schon her? Ist das West-Import oder gabs die schon in der DDR? Bin ratlos mit stillem Entsetzen. Sie klopfen sich auf die Schulter, lachen laut, einer sagt Kamerad! Jetzt gehts los! Der andere grölt Deutschland einig Vaterland! Prost!
Es wird gesamtdeutsche Wahlen geben! sage ich zu Matthias, um nach den vielen Trennungsjahren das Gespräch in Gang zu bringen. Er antwortet grinsend: Ich werde mich erst mal bei den Christen reinschmuggeln und mich dort als Kandidat aufstellen lassen! Unsere nationale Bewegung ist noch im Aufbau, aber in ein paar Jahren wird Tacheles geredet! Die Tschechen warten schon darauf, wieder heim ins Reich zu kommen! Er lacht. Träume ich?
Am gleichen Abend fahre ich zurück in die Stadt, die noch Karl-Marx-Stadt hieß und suche ein Hotel. An der Bar sitzen ein Holländer und ein Westdeutscher. Einer ist Antiquitätenaufkäufer alter Bauernmöbel, der andere Versicherungsvertreter; beide wollen ins Erzgebirge. "Da ist was zu holen!" sagt der Holländer und prostet dem Westdeutschen zu. "Die warten nur darauf, ihre alten Bauernmöbel gegen neue Ikea-Schränke einzutauschen!" Er zeigt lachend auf den Möbelkatalog.
Neben dem Hotel eine Kneipe. Drinnen diskutierende Jugendliche. An der Wand eine FDJ-Fahne und ein Plakat mit einer Karikatur. Sie zeigt Helmuth Kohl als Birne; darunter der Text: "Alles ein Irrtum! Kohl war gedopt!"
In einer anderen Kneipe aus der Musikbox westdeutsche Schlager. Die Frau hinterm Tresen: Sie sind ausm Westen! Ich nicke und sie sagt abschätzend: "Das sieht man gleich! An der Kleidung! So was gab s bei uns nicht!" Ich bestelle eine Runde und die Frau sagt: "Die Einheit und die D-Mark müssen kommen! Sonst mach ich rüber!" Nach einer Weile himmelt sie mich an: "Was es da alles zu kaufen gibt! Ich könnt mich verlaufen in sonem Kaufhaus. Wollense mich nich mit rüber nehmen? So alleene trau ich mir nich !"
Ich erzähle ihr von der anderen Frau, mit der ich vorher ins Gespräch gekommen war; sie hatte meine Einladung zu einer Tasse Kaffee abgelehnt und mich mit den Worten abgefertigt: Wer braucht denn diesen überflüssigen Kram, mit dem ihr uns jetzt die Augen zuschmieren wollt? Da wird einem ja schwindelig! Bald werden wirs uns sowieso nicht mehr leisten können, dann werden wir arbeitslos sein!"
"Das war bestimmt die Olle von einem Parteibonzen!" Abfällige Einschätzung der Frau hinter dem Tresen. "Die hat die Zeichen der Zeit nicht erkannt! Aber ich würde meine Chance wahrnehmen !" Lächelnd legt sie eine Hand auf meinen Arm.
Später im Hotel liege ich wach. Nachdenklich und ohne die Frau aus der Kneipe. Viel erlebt an einem einzigen Tag, am Tag meiner letzten Grenzüberschreitung. Frühe Tendenzen in einem Land, das bald nicht mehr das gleiche sein wird
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