Politikwissenschaftler: Ausnahmezustand stellt Demokratiefrage neu
Könnte die Demokratie langfristig unter den aktuellen Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie leiden? Sind die getroffenen Maßnahmen angemessen? Werden Bürgerrechte zu stark eingeschränkt und verletzt? Fragen wie diese werden seit einigen Tagen verstärkt in den Medien diskutiert.
Der Politikwissenschaftler Claus Leggewie (Essen) warnte im Deutschlandfunk vor der längerfristigen Gefahr, dass wir uns jetzt an einen autoritären Maßnahmenstaat nolens volens gewöhnen. Er halte es für richtig, dass die Bürger derzeit auf Souveränitäts- und Grundrechte verzichteten und nicht protestierten. Gleichzeitig stelle der Ausnahmezustand aber die Demokratiefrage noch einmal ganz neu. Die Sorge von vielen Verfassungsrechtlern und Vertretern der Zivilgesellschaft sei: Wie kriegen wir das eigentlich wieder zurückgebogen? Wie kriegen wir den legitimen Zustand der Volkssouveräntiät wieder hin? Werden vielleicht irgendwelche Rechte aus dem Ausnahmezustand weiterhin beschnitten sein?
Auch das deutsche Grundgesetz sei nicht so krisenfest, wie es auf den ersten Blick scheine, warnte der Politologe.
Lobo: Man kann gegen Ausgangssperren argumentieren und trotzdem kein Massenmörder sein
Der Chefredakteur der Augsburger Allgemeinen, Gregor Peter Schmitz, schrieb, dass die ökonomische Corona-Vollbremsung neue Risiken gebiere: Doch wer nur leise Zweifel an einer möglichen Corona-Überreaktion äußert, dem droht der Stempel: ,Unsolidarisch. Alles ist scheinbar absolut alternativlos. Ganz offen wird geschwärmt, wie viel besser die soziale Abriegelung in (der Diktatur) China klappt.
Im Deutschlandfunk bezeichnete es der Journalist Vladimir Balzer als ein Spiel mit dem Feuer, dass wir dieses freie, offene Land ohne Diskussionen und spürbare Widerstände einfach so lahmlegen, dass wir Grundrechte außer Kraft setzen, dass wir Menschen denunzieren, die es wagen, eine Runde im Park zu drehen.
Der Blogger und Journalist Sascha Lobo schrieb auf spiegel.de unter dem Titel Wider die Vernunftpanik, es bestürze ihn, dass jetzt auch sich als liberal bezeichnende Leute bereit seien, ausnahmslos jede Grundrechtsbeschränkung klaglos hinzunehmen. Wenn nun der richtige Notfall eintrete, werde eine übergroße Mehrheit bereit sein, Grundrechte über Bord zu werfen. Die Vernunftpanik verhindere Debatten: Dabei ist auch eine sinnvolle Grundrechtseinschränkung eine Grundrechtseinschränkung, über die diskutiert werden kann und muss. Man kann gegen Ausgangssperren argumentieren und trotzdem kein Massenmörder sein.
Prof. Dreier: Eingriffe in Grundrechte sind nicht automatisch Verletzungen derselben
Der Staatsrechtler Prof. Horst Dreier (Würzburg) sagte gegenüber der Evangelischen Nachrichtenagentur idea, dass die bisherigen Maßnahmen zur Bekämpfung der Pandemie tief in zentrale Grundrechte der Bürger eingriffen. Aber Eingriffe in diese Rechte seien nicht automatisch Verletzungen derselben, betonte Dreier: Es kommt immer darauf an, ob die Eingriffe gerechtfertigt sind. Und das sind sie, wenn sie ergriffen werden, um andere und vielleicht höhere Rechtsgüter zu schützen. Konkret werden die Maßnahmen ja zum Schutz von Leib und Leben von Menschen in einer unbekannten Größenordnung ergriffen.
Entscheidend ist die derzeitige Perspektive
Da derzeit große Ungewissheit in den zentralen Fragen herrsche, stehe der öffentlichen Hand ein beträchtlicher Einschätzungsspielraum bei der Frage zu, welche Maßnahmen nötig, unabweisbar und angemessen seien. Möglicherweise stelle sich irgendwann später heraus, dass manche Maßnahme nicht nötig war: Entscheidend ist aber die derzeitige Perspektive, in der es naturgemäß große Prognoseunsicherheiten gibt. Er halte es für unverantwortlich, davon zu sprechen, dass Grundrechte über Bord geworfen würden: Das werden sie schon deshalb nicht, weil Grundrechtseingriffe das Bestehen des Grundrechts nicht aufheben, sondern es voraussetzen. Und über Bord geworfen werden sie umso weniger, wenn die Maßnahmen befristet werden, wie das der Fall ist.
Prof. Papier: Aktuelle Ausgangsbeschränkungen sind verfassungsgemäß, aber
Der ehemalige Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Hans-Jürgen Papier, schreibt in einer idea-Stellungnahme, dass die Corona-Pandemie ein Test für die rechtsstaatliche Demokratie sei. Er warnt vor weitergehenden Maßnahmen: Weder die Forderung nach einer besseren Klimaschutzpolitik noch die aktuellen Notmaßnahmen zum Schutz von Leben und Gesundheit der Bevölkerung rechtfertigen die Aufgabe der Freiheitsrechte zugunsten eines Obrigkeits- und Überwachungsstaates. Die aktuellen Ausgangsbeschränkungen seien aus seiner Sicht aber noch verfassungsgemäß.
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http://www.idea.de/menschenrechte/detail/politikwissenschaftler-ausnahmezustand-stellt-demokratiefrage-neu-112398.html
Twdore
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