Es ist nie zu spät neu anzufangen
Es ist nie zu spät neu anzufangen (Leseliese)
Eine Woche nach seinem 25-jährigen Betriebsjubiläum bekam Günther einen Brief, in dem der Abteilungsleiter ihm mitteilte, dass man ihn wegen der schlechten Auftragslage entlassen müsse.
Fassungslos stand Günther in der gemütlichen Wohnküche seines Einfamilienhauses und hielt seiner Frau Doris wortlos den Brief hin.
"Das kann doch nicht wahr sein!" rief er aus. "Noch vor einer Woche lobte mich der Chef, dass ich aufgrund meiner jahrelangen Erfahrungen, besonders für die jüngeren Kollegen eine große Unterstützung sei."
"Sie sind immer pünktlich und zuverlässig gewesen und haben verantwortungsbewusst die ihnen gestellten Aufgaben erfüllt", fügte er noch an.
Bei der kleinen Feier im Kollegenkreis hatte auch der Abteilungsleiter seine Arbeit gewürdigt.
Und nun die vorzeitige Kündigung. Auch seine Frau konnte es nicht fassen. "Ich bin doch erst 55 Jahre alt. Aber bei der Situation auf dem Arbeitsmarkt habe ich doch keine Chance, eine neue Arbeit zu finden", stöhnte Günther.
Er setzte sich auf einen Stuhl und sackte in sich zusammen. Ihr großer, starker Mann, den sie liebevoll "mein starker Bär" nennt, saß wie ein Häufchen Elend auf dem Stuhl.
Doris legte den Brief auf den Tisch. Dann ging sie zu Günther und nahm ihren Mann in den Arm. "Das schaffen wir schon." "Du hast recht, es ist bitter, wenn man nach so langer Zeit vor die Tür gesetzt wird", sagte sie. "Aber lass den Kopf nicht hängen, wir haben schon andere Probleme gemeinsam gemeistert!"
Doris setzte Kaffeewasser auf. "Jetzt trinken wir einen Kaffee und dann gehen wir ein Stück spazieren, das wird Dir gut tun".Günther und Doris hatten Urlaub, danach würde Günther noch zwei Wochen arbeiten und dann zu Hause sein.Am nächsten Morgen stand Günther als Erster auf und bereitete das Frühstück. Dann überlegten beide, wie es weitergehen könne."Wir haben uns vorgenommen, immer nach vorn zuschauen, diese Wende in Deinem Leben kann doch auch eine neue Chance sein", ermunterte Doris ihren Mann.
"Ich muss mich beim Arbeitsamt melden, vielleicht finde ich doch noch eine andere Arbeit?" "Es ist immer wieder weiter gegangen", seufzte Günther.
Doris arbeitete halbtags in dem Büro eines Gartenarchitekten. Wenn Günther keine Arbeit mehr findet, dann würden sie mehr Zeit füreinander haben. Der Sohn lebte mit seiner Frau auf dem Land, beide waren berufstätig. Die Tochter war mit ihrer Familie in die Nähe von München gezogen, sodass sie die vier Enkelkinder auch sehr selten sahen.
Im Urlaub waren sie viel gewandert. Gemeinsam hatten sie überlegt, wie sich Günther vielleicht ehrenamtlich betätigen könnte.Der letzte Arbeitstag brachte noch einmal eine große Belastung für Günther. Der Abschied von den Kolleginnen und Kollegen, mit denen er viele Jahre zusammengearbeitet hatte, fiel ihm doch sehr schwer.
Dann war alles vorüber. "Du kannst uns doch immer mal besuchen kommen", riefen ihm die Kollegen noch nach.
An den Vormittagen war Günther allein, weil Doris im Büro war. Da er schon immer gern gekocht hat, bereitete er das Mittagessen vor. Danach lief er ziellos durch die Stadt. Seine Stadt, die Stadt des Dichters Theodor Fontane. Er mag den Stil des Dichters und hat sehr viel von ihm gelesen. Nach der Wende hatte sich auch Neuruppin verändert. Viele Häuser waren restauriert worden und erstrahlten wieder im alten Glanz. Neue Hotels standen am Ruppiner See und lockten Touristen an.Er kam an der Geschäftsstelle der Touristeninformation vorüber. "Eigentlich könnte ich doch mal fragen, ob vielleicht noch ein Stadtführer benötigt wird. Ich kenn die Stadt wie meine Westentasche. Hier bin ich aufgewachsen und habe die Schulbank gedrückt", überlegte Günther. "Sachkundige Stadtführer sind uns immer willkommen", sagte Herr Held, der das Büro leitet. "Ich empfehle Ihnen noch einen Kurzlehrgang zu belegen, um die Kenntnisse aufzufrischen und zu aktualisieren, dann können Sie bei uns anfangen. Leider können wir Ihnen nur eine Aufwandsentschädigung zahlen". Vielleicht ist es uns später möglich, Sie auf Honorarbasis zu bezahlen, wenn noch mehr Touristen unsere Stadt besuchen", ergänzt Herr Held seine Ausführungen.Günther konnte sein Glück kaum fassen. Seit sechs Monaten saß er nun schon zu Haus. Das Arbeitsamt hat ihn nicht wieder vermitteln können.
Er konnte es kaum erwarten bis Doris nach Hause kam, sie würde sich mit ihm freuen.Auch wenn er erst nur zweimal wöchentlich eingesetzt werden würde. Es war eine Chance und noch dazu eine Arbeit, die ihm Spaß machen würde.
"Was ist denn mit Dir passiert? Du strahlst ja über das ganze Gesicht", fragte Doris, kaum dass sie das Haus betreten hatte. Doris, seine lebhafte, kleine Frau, die ihm kaum bis zur Schulter reicht, auf die er sich immer verlassen kann. Günther berichtete von dem Gespräch im Tourismusbüro und Doris vollführte einen kleinen Luftsprung vor Freude.
"Ich hab doch gesagt, es findet sich etwas. Das ist doch prima, die Arbeit wird dir Freude machen. Wenn Herr Held erst merkt, wie gut Du Dich in der Stadt auskennst, wirst Du vielleicht häufiger eingesetzt", versicherte Doris."Du kannst die Stadtführungen mit kleinen Anekdoten aufwerten oder mal einen kurzen Vers von Theodor Fontane einfügen, das wird den Touristen gefallen. Mir ist nicht bange, dass Du das sehr gut machen wirst".
Zur Feier des Tages tranken sie zum Abendessen ein Glas Rotwein. Günther nahm seine neue Aufgabe sehr ernst und bereitete sich gut auf die Führungen vor. Dadurch wurde er abgelenkt und grübelte nicht mehr so viel. Zwar mussten sie sich finanziell weiter einschränken, aber sie mussten keine Miete zahlen, das Haus war längst abgezahlt. Für Doris war nur wichtig, dass Günther wieder eine Aufgabe hatte und sich nicht mehr so überflüssig fühlt.
Wie das so ist im Leben, wenn man offen ist und sich etwas Neues zutraut, dann geht es auch wieder vorwärts. An der Seniorenbegegnungsstätte war ein kleiner Aushang: Wir suchen Seniorinnen/Senioren, die sich ehrenamtlich betätigen möchten. Günther überlegte nicht lange und meldete sich. In der Begegnungsstätte hatte man einen Computerraum eingerichtet und nun wurden Bürger gesucht, die den älteren Leuten die ersten Schritte am Computer beibrachten. Bei dem Gespräch mit der Leiterin, Frau Bach ergab sich für Günther ein weiteres Betätigungsfeld. "Es wäre schön, wenn Sie einige Senioren auch mal zu Behörden begleiten oder beim Ausfüllen von Anträgen helfen könnten", erklärte sie ihm.
Doris und Günther besaßen schon lange jeder einen Computer, bei ihren Wanderungen durch die Natur fotografierten sie sehr viel und bearbeiteten die Fotos am Computer. Auch mit der Textgestaltung und dem Internet kannten sie sich gut aus.Inzwischen sind einige Jahre vergangen. Doris und Günther sind Rentner und können sich ihre Zeit frei einteilen. Doch die selbst gewählten Aufgaben, auch Doris leitet Computerkurse,führen sie weiter.
Durch die neuen Aufgaben hat Günther die Krise mit Doris Hilfe gut überwunden. Ihr Alltag hat eine neue Qualität bekommen. Besonders die Stadtführungen, die Günther leitet, sind sehr beliebt und immer ausgebucht.
Ein Text von: Leseliese
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