Ein Zeitgeschenk

Heute Morgen bekam ich eine Stunde geschenkt. Das heißt, nicht einfach so geschenkt, denn man hatte sie mir vor einem halben Jahr ganz einfach abgeknöpft. Das geschah damals nachts, während ich schlief, und ich vermisste sie am anderen Tag nicht mal.

Ganz anders heute. Ich erwachte wie immer um acht Uhr. Höchste Zeit zum Aufstehen. Der gewohnte Griff zum Radioknopf und dann die Zeitansage: "Es ist sieben Uhr……."
Und da war sie – die Stunde. Sofort hatte ich Besitz von ihr ergriffen. Sie bot mir ungeahnte Möglichkeiten, mein Leben an diesem Tage zu bereichern.

Auf dem Weg ins Bad schwirrten mir gleich ein paar Ideen durch den Kopf. Ich könnte ja zum Beispiel……… Wäsche waschen, dachte ich beim Anblick der Waschmaschine. Aber es schien mir dann doch zu banal, eine geschenkte Stunde mit Wäschewaschen zu vertun. Oder…….. ich könnte ja auch mal was ganz Tolles, Zeitaufwändiges, dafür aber besonders Delikates kochen. Nein! Das ging auch nicht, denn dann würde ich zu viele Kalorien in mich hineinfuttern, und ich benötigte eine weitere Stunde für einen ausgiebigen Waldlauf.
Gar nicht so einfach, so eine außerplanmäßige Stunde sinnvoll zu nutzen. Beim Frühstück sahen mich die drei Briefe mit ihren Papierfalten recht mürrisch an, weil sie schon so lange unbeantwortet auf meinem Schreibtisch liegen. Aber sollte ich Schulden mit einem Geschenk bezahlen?

So schob ich die Stunde den ganzen Tag vor mir her und wartete auf einen Anlass, sie würdevoll und feierlich zu verbrauchen.
Als am Abend Harry kam, war sie noch kein bisschen angeknabbert, und ich war bereit, sie mit ihm bei einer Flasche Wein zu teilen. Ich kam jedoch gar nicht dazu, die Flasche aus dem Keller zu holen, denn Harry sprudelte gleich los. Er erzählte von seiner Reise an die Ostsee. Aber das nur nebenbei. Im Vordergrund standen sein defektes Motorrad, die liederliche Arbeit der Handwerker und die darauf zurückzuführenden Pannen unterwegs. Er legte mir in bildhafter Sprache seine Probleme und jedes Einzelteil der Maschine direkt auf den Tisch. Ich verstehe nicht viel von Motorrädern. Harry weiß das. Er erzählte mir trotzdem davon – eine ganze Stunde lang.

@um 09/82

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Kommentare

  1. Erzählen über dieses und jenes tuen viele, manchmal nur mit mäßigem Erfolg.
    Zuhören, ist allerdings eine Tugend welche nicht jeder beherscht.
    Deswegen war die Stunde schon gut angelegt.
    Denn spätestens um Mitternacht wäre diese Stunde, so oder so Geschichte gewesen.
    L.G. Rocky

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