Der freie Wille

Geht es nach neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen, dann scheint es mit dem freien Willen des Menschen nicht weit her zu sein. Die Neurobiologie glaubt herausgefunden zu haben, dass Sekundenbruchteile vor einer bewussten Entscheidung die dazugehörige Handlung bereits im Gange ist, was, wenn es denn tatsächlich so wäre, viel Raum für unangenehme Spekulationen eröffnet. Nicht nur, dass es mir der ungeheuren Konsequenzen wegen besser gefiele, wenn diese Erkenntnis auf unzureichende Kapazitäten seitens der Wissenschaft und der von ihnen verwendeten Gerätschaften beruhte und demnächst revidiert oder zumindest relativiert würde, ich habe zudem Erfahrungen gemacht, die für die Beibehaltung der bisherigen Sichtweise sprechen:

Ich erinnere z.B., dass ich vor ca. hundert Jahren meine recht überschaubare Studentenbude durch einen raumhohen Spiegel am Ende eines kurzen Flurs optisch vergrößern wollte. Die beiden Muskelmänner der Glashandlung lehnten das Trumm, noch ungerahmt, an die Stirnwand. Ziemlich dicht. Ich stellte eine kleine Truhe, vielleicht 30 cm hoch, 50 cm breit und 30 cm tief, davor. Danach begutachteten mein mächtiger Kater und ich das teure Stück aus etwa 3 m Entfernung. Während ich die räumliche Wirkung genoss, erkannte der vierbeinige Wohnungsbesitzer sein Spiegelbild nicht, legte die Ohren an, stellte die Haare auf, schnellte fauchend auf den vermeintlichen Eindringling zu, prallte voller Wucht mit sich selbst zusammen und brachte das labile Arrangement in bestürzende Unordnung.

In der Viertelsekunde (wenn’s hoch kommt), während derer der Spiegel Übergewicht in Richtung Flur bekam, schoss mir durch den Kopf, dass er ungeschliffene Kanten hatte und der Truhe wegen, die nicht mittig sondern mehr seitlich davor stand, nicht gerade nach vorne fallen würde, so dass ich ihn mit flachen Händen hätte aufhalten können, er würde vielmehr ab einer bestimmten Neigung unten hochsteigen und mir über das Hindernis hinweg in schrägem Winkel entgegen kommen. Das, so überlegte ich, wird zwar dem Kater, der sich dicht neben der Truhe in den Boden krallte, das Leben retten, für mich aber beim Zugreifen die Verletzungsgefahr durch die scharfen Seitenkanten erhöhen, was ich aber selbstverständlich in Kauf genommen hätte, wenn das Tier sich vorzeitig vom Schreck erholt und von der Stelle bewegt hätte.

Fazit: Nach reiflicher Überlegung und gründlicher Abwägung aller Vor- und Nachteile im Bruchteil einer Sekunde hatte ich ganz bewusst den Dingen ihren Lauf gelassen, danach den Kater liebevoll aber entsetzlich verflucht, die Einzelteile des funkelnagelneuen, noch nicht einmal bezahlten Spiegels zusammengefegt, den Flur renoviert und mich noch tagelang gewundert, was man, wenn’s drauf ankommt, in so kurzer Zeit alles denken, abwägen und entscheiden kann.

Oder damals, als ich hier gerade eingezogen war und mich noch nicht an die vielen Treppen, kurze und lange, gewöhnt hatte.

Gleich am ersten Abend war’s, als ich ein Dutzend schwere Keramikteller (Typ toskanisches Landhaus) von der Umzugskartonauspackstelle im Wohnzimmer die fünf Stufen zur Küchenebene hinauf schleppte und auf der letzten Stufe ins Stolpern kam.

Heideneih! Da geht einem vielleicht was durch den Kopf!

Schon halb in der Schräge und in vollem Bewusstsein, dass dies nicht mehr aufzuhalten, geschweige denn umkehrbar war, überlegte ich, ob ich die 12 Teller, die sich auf meinen ausgestreckten Armen bereits über dem Granitboden des Küchenbereichs befanden, los- und fallen lassen sollte, worauf sie natürlich in schrecklich zackige Scherben zerschellen und mich fürchterlich verletzen würden, wenn ich, was nicht zu verhindern war, auf sie drauf und in sie hinein stürzte.... oder ob ich glimpflicher davon käme, wenn ich das Geschirr an mich gepresst hielte während ich ungeschützt auf den Boden knalle, verbunden mit der Hoffnung, dass meine zarten Unterärmchen genug Puffer wären, um das Schlimmste zu verhüten. Da mir auf die Schnelle keine dritte Variante einfiel habe ich mich für die Zweite entschieden; schlug der Länge nach ungebremst auf den Boden, zerdepperte mit dem Kopf die obersten beiden Teller, rettete die zehn anderen, zog zwei, drei Splitter aus meinem Haaransatz und balsamierte eine nicht in Erinnerung gebliebene Anzahl von blauen Flecken an allen möglichen und unmöglichen Stellen.

Fortsetzung: Der freie Wille II

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03.03.09 - @ mea:

🙂 Ja klar doch, ich dachte, das seien schon mal zwei gute Beispiele dafür. Das Dritte beschreibe ich im 2. Teil. 😉

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Kommentare

  1. "eigentlich" wollte ich ja gar nicht schreiben, finde aber deine beiträge "ganz" gut. ich denke du hast deinen beruf verfehlt, statt dich mit miesen planern zu umgeben, hättest du schriftstellerin werden sollen. bei deinem intellekt würdest du bestimmt gute krimis schreiben in denen nicht immer nur der gärtner als der sündenbock herhalten muss.
    was das fallen anbetrifft, würde ich dir raten etwas sport zu treiben, da fällt man ohne sich grosse gedanken zu machen und ohne überlegung instinktiv immer richtig.
    bleibt mir nur noch dir zu wünschen dass dein steisssbein nicht all zu sehr gelitten hat und du dich in deinem edlen zwirn, wie auf deinen fotos zu sehen, wieder normal bewegen kannst.

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