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Ein Mensch schreibt mitternächtlich tief
an die Geliebte einen Brief,
der schwül und voller Nachtgefühl.
Sie aber kriegt ihn morgenkühl,
liest gähnend ihn und wirft ihn weg.
Man sieht, den Brief verfehlt sein Zweck.
Der Mensch der nichts mehr von ihr hört,
ist seinerseits mit Recht empört
und schreibt am hellen Tag, gekränkt
und saugrob, was er von ihr denkt.
Die Liebste kriegt den Brief am Abend,
soeben sich entschlossen haben,
den Menschen dennoch zu erhören –
den Brief muss diesen Vorsatz stören.
Nun schreibt , die Grobheit abzubitten,
der Mensch noch einen zarten dritten,
und vierten, fünften, sechsten, siebten
der herzlosen schweigenden Geliebten.
Doch bleibt vergeblich alle Schrift,
wenn man zuerst danebentrifft.
Eugen Roth (1895-1976)
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