Besuch aus Afrika: Schluß

Schluß:
Längere Zeit war ich dann nicht dort gewesen. Die weißen Schlehenblüten waren längst abgelöst durch die nicht minder schönen Heckenrosen, und das Gras ringsum war geschnitten und zu Heu geworden, als ich meine Freunde wiedersah. Und, siehe da, aus zwei Neuntöter waren fünf geworden: zwei Erwachsene und drei kleine Daunenknäule, die dicht gedrängt auf einem Zweig hockten und unablässig nach Futter bettelten. Die beiden Eltern konnten garnicht so viel heranschaffen, wie sie nach dem Gepiepse der Kleinen eigentlich sollten. Aber sie würden es schaffen, denn das Wetter war wochenlang gut und Kleingetier reichlich vorhanden. Und bis zur großen Rückreise nach Afrika war noch gut sechs Wochen Zeit.
Daß die Zeit bis dahin auch mal zu kurz sein kann, hatte ich vor einigen Jahren im Breedenmoor beobachten könne: Dort saß Mitte August ein kleiner Nachkömmling auf dem Stacheldraht, das Federkleid daunenartig aufgeplustert und noch ganz und gar ohne die so wichtigen langen Flügel. Und beide Eltern saßen daneben und stopften in den Kleinen hinein, was eben hineinging. In ungefähr acht Tagen würde man sich auf die lange Reise begeben müssen, wahrscheinlich ohne den kleinen Neuntöter, mochte der auch noch so schlucken und würgen. Eine halbe Stunde hatte ich mir das sich anbahnende Drama angesehen, dann mochte ich nicht mehr, denn helfen konnte ich doch nicht.
An der Bilsbekbrücke entwickelten sich aber alles normal: die Kleinen, bald so groß wie die Eltern, zeigten Tag für Tag ihre Flugkünste zwischen den Knicks und Dornenbüschen. Bis Ende August ging das muntere Spiel. Dann aber, in den ersten Septemberwochen, als ich sie gern noch einmal gesehen hätte, war kein Neuntöter mehr aufzufinden. Sie hatten sicher die große Reise angetreten, und zwar jeder Vogel ganz für sich allein, wie Fachleute behaupten. Ich wünschte ihnen in Gedanken viel Glück, und war mir sicher, im nächsten Jahr würden sie wiederkommen.
So war das im letzten Jahr.
Heute aber werde ich wohl noch vergebens warten. Der Morgennebel hat sich mittlerweile ganz verflüchtigt und der wärmenden Frühlingssonne Platz gemacht. Vom Dorf her hämmert der erste Trecker in die Stille hinein, und ein Düsenklipper zieht im großen Bogen am wolkenlosen Himmel gen Fulsbüttel. Untrügliche Zeichen für einen bereits beginnenden neuen Arbeitstag.
Ich verspüre Lust auf ein zweites Frühstück und klappe meinen Gartenstuhl zusammen, um nach Hause zu fahren. Morgen werde ich wiederkommen wollen, ganz früh vor Tau und Tag, in diese erwachende wunderbare Natur. Ich werde sicher wieder von der Amsel beschimpft und vielleicht von einem furchtsamen Hasen beäugt werden. Und wenn der Neuntöter morgen noch nicht da sein sollte, dann vielleicht übermorgen.
Und im nächsten Jahr werde ich wohl wieder hier sitzen, an der Bilsbekbrücke, und warten – auf meinen Besuch aus Afrika.

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