Seine letzten zwanzig Minuten

27. Juli 2010 in Weblogs

Seine letzten zwanzig Minuten (Marilou)

"Ich bin ein "Lidia", zum Kämpfen geboren, vom Aussterben bedroht. Es gibt nicht mehr viele von uns. Ich bin ein Koloss von einem Stier mit einer Brust wie ein Fass, schmalen Hüften und kurzen, stämmigen Beinen." Stolz erhebt er den mächtigen Schädel mit den langen spitzen Hörnern und lässt sich umbranden vom Jubel aus vielen tausend Kehlen.

Vergessen hat er, dass er vor vielen Jahren schon einmal in eine "Tienta"verwickelt war, dieser harmlosen Kräfteprobe zweijähriger Kampfstiere und unreifer Toreros. Zum stolzen Stier ist er herangewachsen in den weiten, menschenleeren Weidegründen des spanischen Hochlandes. Er hat gelebt, er hat geliebt und nie ist er einem Kampf ausgewichen.

Dann sind die Zweibeiner gekommen und haben ihn und ein paar andere mächtige Stiere aus der Herde mitgenommen. In einem furiosen Lauf sind sie durch enge Gassen gehetzt, vorbei an wild gestikulierenden und schreienden Wesen in weiß und rot, bis zur Arena. Die letzten Tage verbrachte in einem dunklen Gelass, einem Gefängnis, in dem er nicht fressen und nicht saufen mochte. Zuletzt haben sie ihn mit spitzen Stöcken gepiesackt und nur mit einem beherzten Sprung kann er seinen Peinigern entkommen. Da steht er nun und blinzelt in das gleißende Sonnenlicht, unfähig sich zu orientieren.

Gemächlich setzt er sich in Trab entlang der hölzernen Begrenzung und lässt seine Muskeln spielen - herrlich diesesGefühl, wieder frei zu sein.Vor ihm erscheint ein tänzelndes Wesen wie ein großes schillerndes Insekt, das mit seinen Flügeln wedelt. Er stutzt, dasWesen kommt näher, tänzelt auf ihn zu, wedelt und fordert ihn heraus."Das ist ja lästig", denkt er und senkt den mächtigen Schädel. Auf seinen kurzen Beinen donnert er auf den Torero zu, will ihn mit Schwung auf die Hörner nehmen, ihn hoch in die Luft werfen um ihn dann unter seinen Hufen zu zermalmen. Doch der ist schlau, weicht ihm in eleganten Kurven aus, lässt sich sogar nieder auf ein Knie um ihm ins Auge zu blicken, springt auf, dreht sich elegant zur Seite, und reizt ihn so zu immer neuen Angriffen; dabei dröhnt es von den Rängen, olé, olé, olé.

Wohin er sich auch wendet, immer ist ein Torero zur Stelle und das verwirrende Spiel beginnt erneut. "So geht das nicht", denkt er, bleibt mit pumpenden Lungen stehen und versucht, sich zu besinnen.

Er wird nicht rasten können. Schon nähert sich ein ernsthafterer Gegner, ein mit Leder gepanzertes Pferd. Er sammelt all seine Kraft und seine kurzen Beine stürmen gegen den Gegner an. Mit gesenktem Kopf drückt er das Pferd an die Bande, seine Hörner verfangen sich in dem Gehänge aus Leder und Metall und wie aus heiterem Himmel trifft ihn der Stoß mit der Tuya. Im Nacken kracht es. Die Wucht der Lanze zerreißt seinen Muskel.

"Jetzt wird es ernst, das ist kein Spiel," denkt er und rast wieder und wieder gegen den Peiniger an. Und wieder und wieder trifft ihn der Picador. Warm rieselt sein Blut über die bebenden Flanken, aber er gibt nicht auf.

Das Pferd hat sich zurückgezogen. Jetzt stürzen sie sich auf ihn, die schillernden Bandilleros und stechen mit bunten Bändern verzierte Bandarillas in seinen Rücken. Er versucht sie abzuschütteln, diese harmlos aussehenden Stöckchen, jedoch siehalten sich unnachgiebig fest in seinen geschwächten Muskeln. Es fällt ihm schon schwer, den Kopf zu heben. Er wird kurzatmig und mit dem herausrinnenden Lebenssaft setzt Müdigkeit ein.

Doch ein Lidia gibt niemals auf!

Zuletzt stehen sich Kreatur und Schlächter, Toro und Matador gegenüber, fixieren sich, versuchen dem Gegner Furcht einzuflößen."Du oder ich", denkt der Lidia.Ihm gegenüber steht einer jener Mensch, der das Recht, einen Stier zu töten, herleitet aus seiner Bereitschaft, von diesem Stier getötet zu werden. Es macht ihn rasend, wie er um ihn herumtänzelt. Fühlen kann er den Stoff der wehenden Capote auf seiner Haut - dieses seidig schillernde Cape, das er für die Flügel eines Insekts gehalten hat - und an den Spitzen seiner Hörner klicken die Metallpailletten der Taleguilla, der hautengen schützenden Hose des Matadors. Jetzt lässt dieser sich sogar auf ein Knie nieder und fordert ihn zum Angriff heraus. Totenstill ist es in der Arena.Der Stier prescht los mit gesenkten Hörnern. Schon kann er den Gegner spüren; da schnellt der Matador auf seine Füße, schwingt sich mit den Hüften zur Seite, wirbelt mit dem roten Tuch. Die Attacke geht ins Leere.

In Schreien der Begeisterung entlädt sich die Spannung der Menschen und das olé lässt die heiße Luft über dem zerstampften Sand der Arena erzittern. Sein Atem geht stoßweise und seine Knie zittern. Noch eine Attacke kann er nicht überstehen.

Demütig senkt er sein Haupt vor dem hochaufgerichteten Matador. "Du bist der Sieger", ist das letzte, das er denkt, bevor er die Estocada empfängt. Das lange Schwert trifft ihn mit einem Stoß durch´s Genick mitten ins Herz.

Ein Text von: Marilou