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Windpocken
24. September 2013 in Weblogs
Lennart ist fünf. Er hat seit ein paar Tagen die Windpocken und ist sehr stolz darauf. Er steht ganz im Mittelpunkt, alle laufen besorgt um ihn herum, fragen ihn dauernd nach seinem Wohlbefinden und verwöhnen ihn. Er darf nicht in den Kindergarten, das trägt zur Steigerung seines Behagens bei. Nicht, dass er ungern in den Kindergarten geht, aber jetzt muss er zuhause bleiben und seine erlaubte Verweildauer vor dem Fernseher hat sich erhöht.
Bereitwillig zeigt Lennart allen seine roten Flecken. Als Oma kommt, zieht er sogar stolz die Hose runter und zeigt ihr voller Stolz ein Pustelchen an seinem Pimmelchen. Ausgerechnet an seinem besten Stück. (Dass das sein bestes Stück ist, weiß er zwar noch nicht, aber er scheint es insgeheim zu ahnen, schließlich schlummert ein schickes Mannsbild in ihm.)
Lennys Freude an seinen Windpocken wäre ungetrübt geblieben, wenn da nicht die Sache mit Lilly gekommen wäre. Lilly ist drei und hat noch keine Windpocken gehabt. Lillys Eltern und Lennarts Eltern sind gut miteinander befreundet.
Lillys Eltern sind moderne Eltern. Da werden nicht nur Urlaub und Kinderkriegen geplant, sondern neuerdings auch die Krankheiten der Kinder. Und da Lillys Mutter demnächst wieder arbeiten gehen will, wäre es sinnvoll, wenn man die Sache mit den Windpocken bei Lilly vorher vom Tisch hätte. Irgendwann kriegt Lilly sie sowieso und jetzt wäre es gerade günstig. Was liegt da näher, als sich Lilly bei Lenny anstecken zu lassen.
Lillys Mutter ist Ärztin und meint, diese Infizierung geschehe durch Tröpfchenübertragung. Am sicherten bewerkstellige man das durch einen Kuss der beiden.
Lennys Vater übernimmt die schwere Last, den Kronsohn auf diese verantwortungsvolle Aufgabe beim anberaumten Besuch von Lilly vorzubereiten. Feinfühlig wird Lenny eröffnet, dass er Lilly küssen dürfe. Welch ein erfreuliches Angebot, an sich. Ich habe in meinem ganzen Leben nie eine Frau mit diesem verführerischen Namen kennen gelernt. Schon wegen dieses fabelhaften Namens wäre sie des Küssens wert gewesen. Für Lenny aber kommt dieses traumhafte Angebot leider 10 bis 12 Jahre zu früh. Er schüttelt sich empört, sagt verächtlich: Bäähh! und wendet sich ab.
Mama küsst man und Omi küsst man, aber doch nicht Lilly. (Machen Sie einem Fünfjährigen klar, dass das Küssen von jungen Damen auch für Pimmelchen eine überaus erholsame Wirkung haben kann.)
Nun probiert Omi mit ihren an mir geschulten Überredungskünsten bei ihrem Enkel ihr Glück. Sie erklärt ihm was von Ansteckung und dass diese am besten über Spucke funktioniere. Lenny hört aufmerksam zu und stellt dann sachlich fest:
Dann reicht es doch, wenn ich sie anspucke
.
Lennart bleibt auch am Tage des Besuches trotz aller Bemühungen hart.
Selbst Bestechungsversuche: Dann darfst Du morgen Pan Tau gucken
fruchten nichts. Anfälligkeit für Korruption wäre bei seiner untadeligen Ahnenreihe auch verwunderlich gewesen.
So wird der Besuch anscheinend von einer frostigen Atmosphäre zwischen Lenny und Lilly überschattet. Küssen will Lenny nicht und spucken darf er nicht. So reist man unverrichteter Dinge wieder ab. Meint man. Kurz danach kriegt Lilly die Windpocken. Sollte Lenny etwa doch in einem unbewachten Augenblick
??
©Dr. Jörg Hellmann
Lebensnaher Biologieunterricht für Sechsjährige
3. September 2013 in Weblogs
Lennart ist gerade sechs geworden, er ist unser Enkel. Sein Wissensdurst ist ungeheuer und es wird Zeit, dass er zur Schule kommt, damit ihm von kompetenter Seite Antworten auf seine vielen Fragen gegeben werden. Mindestens jeder zweite Satz beginnt bei ihm mit: Warum
?, der Rest mit: Wieso
? Meine Frau kann etwa 32, 2 Prozent der Fragen richtig beantworten, ich etwa 17,8 Prozent, die restlichen 50 Prozent bleiben im Dunkeln. Dann behelfen wir uns mit Ausflüchten, ausgeklügelten Ablenkungsmanövern (Willst Du ein Eis?) oder mit Antworten von geringem Wahrscheinlichkeitswert.
Der Bengel will aber auch manchmal merkwürdige Sachen wissen!!
Wir werkeln mit Lenny im Garten und finden eine Schnecke. Schon folgt die erste Frage: Opa, wieso hat die Schnecke ein Schneckenhäuschen aus gelb - schwarzen Farben? Was soll man darauf antworten? Mir fällt keine naturwissenschaftlich wertvolle Antwort ein? Also erkläre ich ihm:
Weil die Schnecke Fan von Borussia Dortmund ist!
Red doch nicht so einen Quatsch, fährt Oma dazwischen.
Hast du eine bessere Erklärung? frage ich spöttisch zurück. Sie hat keine, wusste ich es doch.
Und da ich gerne Lennys Eifer entfache, fordere ich ihn auf:
Lass uns doch auch mal nach blau-weißen HSV - Fans unter den Schnecken suchen! Oma richtet verzweifelte Blicke gen Himmel und ist diesen fragwürdigen Biologieunterricht leid.
Lennart, ich muss mal eben zum Einkaufen, willst du mit?
Natürlich will er mit, weil er weiß, dass er sich wieder irgendwelchen Schnickschnack aussuchen darf; statt sich auf die pädagogisch sinnvolle Suche nach blau-weißen HSV - Schnecken zu konzentrieren.
Nach kurzer Zeit kommen Oma und Lenny zurück. Sie haben unter anderem Frische Landeier mitgebracht. Schon kommt die nächste Frage.
Opa, ist in dem Ei ein Küken drin?
Ich antworte vorsichtig:
Weiß ich nicht, vielleicht!
Oma fährt mir wieder in die Parade:
Nein, Lenny, das Ei hat schon eine ganze Zeit im Kühlregal gelegen, da kann kein Küken mehr rauskommen.
Warum nicht?
Weil ein Ei ausgebrütet werden muss.
Ich halte mich vornehm zurück, schließlich habe ich Germanistik studiert und nicht Biologie. Doch plötzlich bin ich gefordert, als Lennart fragt:
Warum werden die Eier aufgebrütet?
Ich korrigiere fachmännisch:
Ausgebrütet, Lenny! Eier werden ausgebrütet!
Oma nickt anerkennend. Na, also, es geht doch.
Lennart hakt nach und bringt gekonnt sein Vorwissen ein:
Da muss man doch erst ein Nest aus Heu bauen und dann geht der Hahn auf das Ei drauf!
Wieder trumpfe ich mit meinen überlegenen Kenntnissen auf:
Nein, das Huhn geht auf das Ei drauf. Der Hahn geht nur auf das Huhn drauf.
Oma guckt mich empört von der Seite an.
Na, und, sage ich, wenn schon Biologieunterricht, dann gleich mit allem Drum und Dran
.
Um der frühzeitigen Verdorbenheit des Nachwuchses nicht weiter Tür und Tor zu öffnen, nimmt nun Oma die Aufklärung des Ausbrütens selbst in die Hand:
Weißt du, Lenny, damit so ein Küken schlüpfen kann, muss das Ei ganz lange warm gehalten werden. Deswegen setzt sich die Henne mit ihrem Po so lange auf das Ei, bis das Küken rauskommen kann
Seit wann haben Hühner einen Po, dass ich nicht lache. Aber ich sage nichts, um Omas Autorität nicht zu untergraben.
Die Sache mit dem Ausbrüten lässt Lennart nicht ruhen:
Dann können wir das Ei doch auch unter ein warmes Kissen legen.
Ich finde diese Feststellung von Lenny klug, aber Oma belehrt ihn:
Das funktioniert nicht!
Warum nicht?
Jetzt sitzt meine Frau in der Tinte, geschieht ihr recht. Ich vermittele.
Wir können es ja mal probieren.
Also wird ein rohes Ei unter ein Kissen auf dem Sofa platziert, und Lenny ist es zufrieden. So vergeht der Nachmittag mit endloser Fragerei und Lenny wird von Oma und Opa in die Geheimnisse des Lebens eingeführt. Schließlich wird der Enkel wieder von seinen Eltern abgeholt. Kaum ist Lenny weg, lasse ich mich erschöpft auf das Sofa plumpsen, auf eben jenes Kissen, das gerade ein rohes Ei auszubrüten versucht
..
©Dr. Jörg Hellmann
Memory mit Enkel Ole
28. August 2013 in Weblogs
Ich spiele mit meinem Enkel Ole Memory. Ole gewinnt immer. Ole ist fast sechs, ich bin fast sechzig. Irgendwie klingt selbst das fast bei ihm anders als bei mir. Bei ihm klingt das Fast-sechs nach endlich bald sechs und endlich zur Schule und endlich Roller-Blades. Das Fast-sechs klingt nach Hoffnung und nach Zukunft. Bei mir klingt das Fast-sechzig nach bald Rentner, nach bald siebzig und nach Arthritis. Es klingt nach Resignation und Mitleid.
Glaubt man den modernen Erkenntnissen der Wissenschaft, könnte Ole mal 100 Jahre alt werden. Ich bin noch nicht mal sechzig und habe überall Zipperlein. Ständig kommt irgendwas Neues dazu und nichts geht mehr weg. Neidisch gucke ich Ole aus den Augenwinkeln an. Er ist gesund und munter, hat klare, helle Augen, kann gut hören und hat noch alle Haare. Er besitzt vier Bälle, ich hatte in seinem Alter einen aus zusammengebundenen Lumpen. Er hat zwei Brüder, ich hatte nur eine Schwester. Und er beherrscht durch den Kindergarten einen Strauß von Schimpfwörtern, die ich selbst bei meiner Konfirmation nicht zu flüstern wagte.
Schlimmer noch ist, dass Ole beim Memory immer gewinnt. Gerade will ich wieder eine Karte ziehen, da sagt er vorwurfsvoll:
Opa, das ist die falsche und er grinst dabei verschmitzt.
Der will mich nur verunsichern, denke ich, aber meine Hand zuckt trotzdem zurück. Der will, wenn ich mich für eine andere Karte entscheide, diese richtige Karte selber nehmen. So weit kommt das noch, dass ich mir bei meiner fast sechzigjährigen Lebenserfahrung von so einem Pöx sagen lasse, welche Karte ich nehmen soll. Ich lächele siegessicher zurück und ziehe die Karte es ist die falsche.
Habe ich doch gesagt, sagt Ole.
Während Ole in der Folgezeit fortwährend richtige Karten aufnimmt und mir jedes Mal einen triumphierenden Blick zuwirft, kommen bei mir die Erinnerungen hoch, schließlich heißt das Spiel Memory. Ich sehe mich als fast Sechsjährigen auf dem Dorfe, ohne fließend Wasser, ohne Bälle und ohne Sendung mit der Maus.
Ich sehe Ole unverhohlen missgünstig in die Augen.
Du bist dran, Opa. Ich habe wieder nicht aufgepasst. Das ist freilich nicht weiter schlimm und verschafft mir ein sicheres Alibi für mein Versagen. Denn wenn ich aufpasse, kann ich mir nichts mehr merken und die Blamage ist viel größer.
Aber irgendwie habe ich mich an Ole schon gerächt. Ich hinterlasse ihm sein Vaterland in einem Zustand, dass er noch
häufig an mich denken wird: ein krankes Gesundheitssystem, leere Staatskassen und leere Schülergehirne, einen am Boden liegenden Wirtschaftsstandort, kurzum, eine aufgeklärte Gesellschaft, die anscheinend den Verstand verloren hat.
Später mal, wenn Ole dereinst erkennen wird, welches Desaster ich und meine Generation ihm hinterlassen haben, wird er sich an mich erinnern. Und dann wird er sagen, kein Wunder, der Opa konnte ja noch nicht mal richtig Memory spielen.
©Dr. Jörg Hellmann
😉