Wie ich den Fall der Mauer erlebte (Fortsetzung)

Im Raum Kassel/Göttingen brachte mein Magen sich in Erinnerung und ließ mich den Rasthof Göttingen-Ost ansteuern. Auf dem Parkplatz war normaler Wochentagsbetrieb, gleiches galt für die Restauration im Haus. Ich nahm am Fenster Platz und hatte gute Übersicht über das Kommen und Gehen. Auf dem Parkplatz reihte sich ein Trabbi ein und drei Personen stiegen aus: offensichtlich ein Vater mit seinen zwei Kindern, eine Tochter, vielleicht 9 – 10 Jahre alt, und ein paar Jahre jüngerer Sohn.
Der bedienende Kellner mußte die neuen Gäste auch schon registriert haben, als sie noch draußen waren, denn er empfing sie am Eingang zum Restaurant. Man unterhielt sich leise, ich konnte den Kellner aber verstehen: „Sind Sie von drüben?“ „Ja“. „Dann habe ich was für Sie. Würden Sie bitte in dem Nebenraum Platz nehmen?“
Dieser Raum war von meinem Platz aus zwar durch zwei Fensterwände hindurch einzusehen, ich kann aber meine Neugierde bei solchen Gelegenheiten gut im Zaum halten. Es blieb mir jedoch nicht verborgen, daß die Gäste „von drüben“ mit einer dezenten Freundlichkeit und wahrscheinlich kostenfrei bedient wurden. „Wir führen momentan eine Begrüßungsaktion durch“ erklärte mir der Kellner, als ich ihm meine Genugtuung darüber zu verstehen gab.
Der Junge hatte sich inzwischen schon mal umgesehen in dem Lokal, wobei ihn eine große Schau-Vitrine mit unzähligen Dingen, die Kinder nun mal gern haben, faszinierte. Plastik-Spielzeug in allen Farben, kuschelige Plüschtiere, im Aussehen dem Original verblüffend ähnlich usw. In hiesigen Kinderzimmern nennt man sie schon mal „Bodendecker“, die abends öfters für Verstimmung sorgen, wenn das Wegräumen angesagt ist. Nicht so bei dem Jungen vor der Schauvitrine: seine bewundernden Augen machten deutlich, daß diese schönen Dinge sein Zimmer bislang noch nicht erobert hatten.
Inzwischen hatte ich die Mahlzeit beendet, den Kellner entlohnt und war schon auf dem Weg zum Auto. Ein kurzer Blick in den besagten Nebenraum bestätigte, daß die „Begrüßung“ der kleinen Gruppe durch das Restaurant sehr großzügig ausgefallen war. Der Mann hatte das Besteck bereits beiseite gelegt, die Kinder löffelten noch mit Hingabe an dem anscheinend wohlschmeckenden „Begrüßungs-Eis“ . Begrüßung, das war das Wort, was mir in dem Moment wieder einfiel und mich innehalten ließ: ich wollte auch „begrüßen“ und machte auf der Stelle kehrt, ging in den Nebenraum: „Sind das Ihre Kinder?“ „Ja“ „“Darf ich denen ein kleines Geschenk machen?“ Kurzes Kopfnicken. „ Hier, für dich und deinen Bruder. Vielleicht wollt` ihr eurem Vater ja auch etwas davon abgeben“. Das Mädchen schaute mit großen Augen auf den Geldschein, und das leise „Danke schön“ war bestimmt ehrlich und kam vom Herzen.
Für mich wurde es Zeit, den Rasthof zu verlassen, denn ich verspürte feuchte Augen und den Kloß im Hals, der jedes weitere Wort vereitelt hätte.
Auf der Weiterfahrt überfielen mich Gedanken, die die Weltordnung, wenn es die denn gibt, ins Wanken bringen würden. Da durften Menschen teilweise das erste Mal in ihrem Leben unser Land besuchen. Unser Land, das doch auch ihr Land war, denn es nennt sich Deutschland und sollte somit doch für alle Deutschen zugänglich sein. Sie fuhren in ihren Trabbis, auf die sie jahrelang gewartet hatten. Wir überholten sie in unseren Wohlstandskutschen und ließen uns nur blöde Witze einfallen, wenn wir es ihnen mal wieder gezeigt hatten, was bei uns Geschwindigkeiten sind. Sie fuhren in die Freiheit, die sie sich schon lange gewünscht hatten, aber auch in eine neue Zeit, die sie nicht kannten.
Gewiß, sie würden Mitmenschen begegnen, die es gut und ehrlich mit ihnen meinen, die ihnen zur Seite stehen, wenn es z. B. um geschäftliche Dinge geht. Sie würden aber auch die Ellbogengesellschaft kennen lernen, die sich ihre Unkenntnis rabiat und rücksichtslos zunutze machen würde. Und schließlich: Warum mußten Erwachsene und vor allem Kinder teilweise Jahrzehnte lang auf attraktive Dinge verzichten, nur weil sie damals, als unser Land aufgeteilt wurde, im falschen Teil dieses Landes wohnten und den sie ihre „Heimat“ nannten.
– Richtige Männer weinen nicht, sagt man. Warum eigentlich nicht? Ich habe geweint auf der Weiterfahrt.

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Kommentare

  1. Danke.
    Es ist keine Selbstverständlichkeit, solch einen Bericht zu lesen.
    Wie oft hört man, es wäre besser, die Mauer wäre geblieben.
    Auch wir hatten damals Tränen in den Augen und wenn heute im Fernsehen diese historische Stunde wiederholt wird, weinen wir immer noch.
    Oft haben wir früher gedacht, warum wohnen wir nur auf der verkehrten Seite?
    Ich danke Ihnen, dass Sie den Kindern ein Begrüßungsgeschenk ermöglichten. Diese Familie wird immeran Sie denken.
    Wenn wir nicht auch solche lieben Mitmenschen wie Sie kennen gelernt hätten, wäre die Wiedervereinigung nicht so herrlich gewesen. Danke noch einmal.
    Thüringia.

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