Werte sind Fiktionen
Warum man sie braucht, obwohl es sie nicht gibt …
Der Philosoph Andreas Urs Sommer geht der Frage nach, was unsere Werte sind, und was unser Glaube an sie über uns selbst verrät. Den Nutzen von Werten sieht Sommer nicht darin, dass sie ein fester Maßstab sind, er sieht die Nützlichkeit in ihrer Eigenschaft, dass Werte vielfältig und veränderbar sind. Erst diese Wandlungsfähigkeit macht sie zu einem Instrument, das geeignet ist, die vielschichtigen Lebenswirklichkeiten unserer Zeit zu meistern.
Wenn jemand vor dreißig Jahren geäußert hätte, aus ökologischen Gründen keinen Diesel mehr zu fahren, er wäre ungläubig angestarrt worden. Biologische Ernährung war zu dieser Zeit für die meisten ein Fremdwort.
Umgekehrt scheint heute jemand, der von Vaterland, Liebe zur Heimat oder Pflichterfüllung spricht, aus der Zeit gefallen zu sein.
Das sind für Sommer Zeichen dafür, dass Werte in ständigem Wandel begriffen sind. Ein modernes Leben lässt sich, so Sommer, nicht in den Griff bekommen mit den traditionellen philosophischen Maßstäben der Ethik, die den Anspruch erheben, ein für alle Mal festgelegt zu sein.
Ein dynamischer Wertebegriff hilft uns dabei, einen Zugriff auf die sich immer schneller wandelnde Zeit zu bekommen.
Moin. Nach dem Lesen des Beitrags blieb ich bei der Frage hängen, wie denn der Zusammenhang zwischen Werten und Tugenden aussähe. Ich kam nicht so recht weiter und befragte ChatGPT dazu. Zitat:
"Werte sind grundlegende Überzeugungen oder Prinzipien, die bestimmen, was eine Person oder eine Gesellschaft für wichtig, wünschenswert oder gut hält (z. B. Ehrlichkeit, Respekt, Freiheit).
Tugenden sind persönliche Eigenschaften oder Verhaltensweisen, die als moralisch gut gelten und die Umsetzung von Werten im täglichen Leben ermöglichen (z. B. Wahrhaftigkeit als Ausdruck des Werts „Ehrlichkeit“).
Beispielhafte Verknüpfungen:
Wert - Entsprechende Tugenden
Ehrlichkeit - Wahrhaftigkeit, Integrität
Respekt - Höflichkeit, Toleranz
Verantwortung - Pflichtbewusstsein, Zuverlässigkeit
Mut - Tapferkeit, Standhaftigkeit
Mitgefühl - Empathie, Hilfsbereitschaft"
Dem Beispiel mit dem Diesel folgend wäre nach meinem Verständnis "Verantwortungbewusstsein" ein Wert und daraus resultieren verschiedene Verhaltensweisen. Es ändert sich im Laufe der Zeit sicherlich die Gewichtung verschiedener gesellschaftlicher und persönlicher Werte. Keinen Diesel ohne Katalysator mehr zu fahren wäre demnach die Konsequenz aus dem Verantwortungsbewusstsein der Umwelt gegenüber. Manchmal machen neue Erkenntnisse ein Problem bewusst und dadurch ändern sich Verhaltsweisen, aber das setzt voraus, dass überhaupt eine grundlegende Bereitschaft vorhanden ist -> das Verantwortungsbewusstsein, um bei dem Beispiel zu bleiben.
Ich kann mit der Definition von ChatGPT mehr anfangen, weil ich nicht glaube (oder nicht wahrhaben will), dass Werte so flexibel und dem Zeitgeist unterworfen sind.
Hallo Florian und Yossarian,
mich hat die Aussage, die dem Sommer zugeschrieben wird, etwas irritiert. Ich kenne den Autor nicht, aber kann mir nicht vorstellen, was er meint. Wie Yossarian andeutet, lassen sich ja viele Maßstäbe zurückführen auf bestimmte ethische Grundgebote. Ein solches Universalgebot ist die berühmte Goldene Regel, von der eine Formulierung bekannt ist: Was du nicht willst, das man dir tu, das füg auch keinem andren zu. Diese Regel ist von Zeit und Ort unabhängig, wird in den verschiedensten Religionen hochgehalten und auch von areligiösen Menschen verstanden und angenommen.
Wenn man diese Goldene Regel allzusehr à la Sommer (oder à la Aussage zu Beginn des Threads) aufweicht oder relativiert, landet man leicht bei autoritären Figuren/Diktatoren, wie wir sie derzeit überreichlich erleben. Vielleicht wollte Sommer erst die nächste Schicht ansprechen, also die Übersetzung von ethischen Grundgeboten in alltagstaugliche Maßregeln?
So ist es mit Werten: Wir entwickeln sie durch unsere Erfahrungen, unsere Erziehung und unsere Kultur. Sie sind also in einem gewissen Sinne "fiktiv", weil wir sie erschaffen. Aber sie sind trotzdem real, weil sie unser Handeln und Denken beeinflussen. Sie entsprechen immer der Zeit in der wir leben, deshalb sind sie veränderbar.
Viele verwechseln das mit "Moralischen Grundsätzen"
Das ist ein spannender Blickwinkel, weil er zeigt, dass Werte keine festen Größen sind, sondern etwas, das wir ständig aushandeln.
Andreas Urs Sommer bringt es wirklich gut auf den Punkt: Werte sind nicht nützlich, weil sie unumstößlich wären, sondern gerade weil sie sich verändern. Diese Flexibilität erlaubt es uns, mit den Herausforderungen unserer Zeit umzugehen. Was gestern noch undenkbar war, ist heute selbstverständlich – und umgekehrt.
Ein fester moralischer Kompass gibt vielleicht Orientierung, aber er kann auch einschränken, wenn er nicht hinterfragt wird. Die Fähigkeit, Werte zu reflektieren und anzupassen, macht uns handlungsfähig – und vielleicht ist das die eigentliche Stärke von Werten: dass sie gar nicht so fest sind, wie wir manchmal denken.
Viele Grüße
seestern47
P.S. Ich mag Deine persönlichen Denkananstöße sehr, @FlorianS