Gud morning, lejdies än dschendelmän!

Gud morning, lejdies än dschendelmän! (Julo)

Ich befinde mich auf dem Bahnsteig Nr. 8 des Wiener Westbahnhofs und bewege mich in Richtung "Prinz Eugen", einem Eurocity-Zug der Österreichischen Bundesbahn, der mich hoffentlich sicher und wohlbehalten von Wien nach Würzburg bringen wird. Es ist Sonntagmorgen, sieben Uhr dreißig, und wir haben "Kaiserwetter". So sagt man in Österreich zu einem strahlenden Sonnentag. Der Himmel ist blitzblau und ein paar weiße Wolken sind wie Farbtupfer, welche das "Himmelsgemälde" vollkommen erscheinen lassen.

Nachdem ich mich von meiner lieben Frau Lisi verabschiedet habe, steige ich ein und setzte mich auf meinen reservierten Gangplatz Nr. 21 im Waggon Nr. 254, Nichtraucher, Abteilwagen und richte mich für eine lange Fahrt ein: kleines Kissen für den Rücken, kleine Plastikflasche mit Mineralwasser, die ich vor jeder Fahrt neu anfülle und diverse Zeitschriften. Wenn man - so wie ich - zweimal wöchentlich diese Strecke fährt (einmal hin und einmal her), dann entwickelt man im Laufe der Zeit ein gewisses Prozedere, um sich die Fahrt so angenehm, wie nur irgend möglich, zu gestalten. Ich bin ja doch zwischen acht und neun Stunden unterwegs, bis ich mein Endziel in Form einer kleinen, entzückenden, schwäbischen Deutschordensstadt er-reicht habe.

Wenige Minuten nach Abfahrt des Zuges ertönt eine Stimme in gepflegtestem Meidling-österreichisch aus dem Lautsprecher mit folgendem Inhalt:"Guten Morgen, meine Damen und Herrn! Zugchef Jäger begrüßt Sie mit seinem Diehm im Eurosiddi Wien-Hamburg, über Bassau, Nürnberg, Würzburg, Frankfurd, Frankfurd Flughafen, Köln, Dortmund, Hamburg und wünscht Ihnen eine gute Reise. Im middleren Deil des Zuges, zwischen der ersten und zweiten Glasse, befindet sich der Speisewagen, in dem Sie gern erwartet werden."Es gehört zum umfangreichen Service der ÖBB (die DB macht das natürlich auch, allerdings in bayrisch-fränkischem Tonfall; bisweilen auch in sächsisch...), die Durchsage in einem nicht ganz astreinen "Oxfordenglisch" zu wiederholen:"Gud morning, lejdies än dschendelmän. Drejntschief Hanter ent his kruh wellkamms juh in ße jurosiddi Wien-Hamburg, weia Passau, Nürnberg, Frankfurt, Frankfurt-Ährport, Köln, Dortmund, Hamburg ent wisch juh ä plessent dschörnie. In ße middl of ße drejn, bidwiehn ße först ent ße seckent glas, ßer iß auer restorantkahr, wer wi wutt bließt tu wellkamm juh."Interessanter Weise werden die T`s in besagtem Englisch teils weich und teils hart ausgesprochen. Warum das so ist, hat sich mir - auch unter Hinzunahme eingehender Studien, weil oft gefahren - nicht eröffnet.Was mir hingegen auffiel, war die Tatsache, dass viele der nicht deutsch sprechenden Mitreisenden Schwierigkeiten damit hatten die Durchsage zu verstehen; aber vielleicht lag es auch nur daran, dass sie selbst nicht genug Englisch konnten...

In meinem Abteil Nr. 21 bis 26 im Waggon 254 befindet sich noch ein Ehepaar, welches sich schätzungsweise altersmäßig im Bereich zwischen 45 und 55 Jahren bewegt. Die beiden dürften schon geraume Zeit miteinander verheiratet sein, denn sie haben einander nicht allzu viel zu sagen. Die Ehefrau lehnt gelangweilt in ihrem Fenstersitz und starrt hinaus. Der Ehemann, welcher ihr vis-à-vis sitzt, hat sich in einem Buch vergraben. Es handelt sich, wie ich mit einem Blick aus meinen Augenwinkeln feststellen kann, um ein wissenschaftlich-mathematisches Werk, was auf den Beruf eines Lehrers in seiner Urform schließen lässt. Sein Habitus (alter Ausdruck für das Gehabe eines Menschen...) und sein Outfit (neuer Ausdruck für die Bekleidung eines Menschen...) nehmen mir die letzten Zweifel. Lehrer müssen sein, ganz ohne Zweifel, und sie sind auch wichtig; befreien sie uns Erwachsene doch tageweise für ein paar Stunden von der Last unser heranwachsenden Kinder...

Wir fahren nicht lange, da beginnen meine beiden Mitreisenden ihr Frühstück einzunehmen. Zu diesem Zweck packt die Ehefrau des pädagogischen Mitreisenden (immer vorausgesetzt, meine Mutmaßung stimmt, was den Beruf dieses Herrn angeht) eine randvoll beladene Tasche aus: Joghurt, Brotaufstriche, Wurst-Majosalat in Plastikbechern, Kabernossi (das ist eine lange dürre Wurst, die nach Länge und nicht nach Gewicht verkauft wird), Margarine, Vollkornbrötchen, Messer, Kaffeelöffel und kleine Geschirrtücher. Dazu Kaffee in einer Thermoskanne aus Edelmetall, diverse Säfte und einige 1,5 l Plastikflaschen mit Mineralwasser. Frau Lehrer (ich nenne sie der Einfachheit halber so), die in ihrer Art und in ihrem modischen Aussehen einen krassen Kontrapunkt zu ihrem Gatten bildet, öffnet mit gespreizten Fingern einen Joghurtbecher und beginnt dann genüsslich, ja beinahe sinnlich in einem eher bedächtigen Tempo den Inhalt - Löffel für Löffel - in ihren kräftig geschminkten Mund zu stecken. Ich schaue ihr zu, denn sie wendet ihren Blick nicht ein einziges Mal vom Fenster, und mir fällt auf, wie interessant es ist einen nahrungsaufnehmenden Menschen zu beobachten. Der Herr Lehrer rückt indessen dem Wurst-Majosalat zu Leibe und er legt dabei ein Tempo vor, als gelte es einen Eintrag in das Guinessbuch der Rekorde zu erzielen. Ebenso wie die Kleidung der beiden, so steht auch die Art des Essens in einem völligen Widerspruch zueinander. Es gibt wohl nichts, so scheint es zumindest, was diese Zeitgenossen gemeinsam haben; außer ihrem Schweigen vielleicht. Die Kommunikation zwischen Mann und Frau findet auf einer Ebene der Zeichengebung statt. Wenn einer von beiden etwas will, so deutet er mit dem Finger darauf oder er nicht mit dem Kopf in die Richtung, in welcher sich der gewünschte Gegenstand befindet.

Zwischenzeitlich ist eine junge Frau (so um die zwanzig Lenze) zugestiegen und hat auf dem Sitz mir gegenüber Platz genommen. Sie grüßt höflich und wendet sich dann einem Taschenbuch in englischer Sprache zu, wie ich dem Titel auf der Umschlagseite entnehmen kann. Auf ihrem Schoß liegt ein Langenscheid-Wörterbuch, welches sie jedoch nur selten zu Hilfe nimmt. Sie ist eine bildhübsche Gretel (das ist eine alte Wiener Bezeichnung für eine weibliche Schönheit) mit guten Manieren. Und das, obwohl sie einen Kaugummi nicht völlig geräuschlos bis zur Bewusstlosigkeit zwischen ihren Kiemen hin- und her schiebt. Aber man weiß ja, dass junge Menschen gerne den Mund leicht geöffnet halten, wie die Karpfen; man weiß jedoch nicht, warum das so ist. Ich nenne sie gern die "Fischmaul-Generation", was sicherlich nicht ganz in Ordnung ist...

So sitze ich nun, nicht gerade sehr bequem, eingepfercht zwischen Taschen und Koffern meiner Mitreisenden, auf meinem Sitz Nr. 21 im Waggon Nr. 254, bar jeder Möglichkeit meine Füße auszustrecken oder gar aufzulegen, in dem von mir selbst eingeredetem Gefühl, dass jede Reise irgendwann einmal zu Ende geht.
Das Abteil eines Zuges besteht aus zwei Sitzreihen mit jeweils drei sich gegenüber liegenden Sitzen. Vier Plätze meines Abteils sind besetzt und zwei, nämlich die beiden mittleren sind zwar reserviert, aber derweil noch nicht belegt. Diese besagten Sitze dienen unserem Lehrerehepaar als Parkplatz für Teile ihres umfangreichen Gepäcks. Meine Nachbarin, beneidenswert jung und geschmeidig, sitzt mit angezogenen Beinen, mit dem Rücken zum Gang, auf ihrem Sitz. Ihre Füße erstrecken sich in einem eher bescheidenen Ausmaß auf dem mittleren Sitz, wobei sich ihre Zehen ganz verstohlen unter eine der Taschen von der Frau Lehrer bohren, was diese jedoch sofort bemerkt und mit einem strafenden Blick belegt. Meine junge Mitreisende registriert dies nicht oder will es nicht registrieren und fährt unbeirrt fort ihren sicher spannenden Roman zu lesen...
"Grüß Gott! Fahrscheinkontrolle!"
Mit diesen Worten stellt sich uns ein Teil des Zugteams vor, nämlich der Herr Schaffner, vulgo der Herr Zugbegleiter, wie man diese Herren in diesen Zeiten tituliert.
Mein Gegenüber und ich sind die ersten, die ihre Tickets vorzeigen. Dann kommt der Herr Lehrer. Er kramt nervös in seiner Herrentasche (sicher ein Geschenk der liebreizenden Gattin) und reicht dann dem Herrn Zugbegleiter seinen Fahrschein."Kann ich Ihre Zuschlagskarten sehen?"fragt dieser den Herrn Lehrer und der Herr Lehrer befleißigt sich in einer eher devot anmutenden Art dem Wunsch des Herrn Schaffners nachzukommen. Dieser wiederum studiert die Unterlagen eingehend, um dann dem Herrn Lehrer lang und tief in die Augen zu schauen.
"Auf Ihrem Fahrschein sind nur zwei Reisende vermerkt, und Sie haben Reservierungen für vier Personen!"bemerkt der Herr Schaffner und fixiert den Herrn Lehrer weiterhin mit festem Blick. Upps!!! Unser Herr Lehrer schluckt, er schluckt noch einmal und dann noch einmal, und dann bekennt er mit einer hauchdünnen, ja beinahe Mitleid erzeugenden Stimme, dass es nur zwei Reisende gäbe; nämlich ihn und seine Gattin. Schweigen und Betroffenheit... Die Blicke des Herrn Schaffners, die Blicke der jungen Frau und auch meine Blicke bündeln sich - einem Laserstrahl gleich - und treffen unbarmherzig auf den ertappten Sünder. Dieser ringelt sich wie ein Wurm, und er versucht mit unschuldigem Blick das Beste aus der Situation heraus zu holen. Seine Ehefrau, die meines Erachtens der Kopf dieser "Zweierbande" ist und deren Hirn diesen "Eisenbahn-Reservierungs-Coup" ausgebrütet hat, schaut teilnahmslos beim Fenster hinaus; so, als gehöre sie gar nicht dazu. Unter Herr Lehrer ist in diesem Augenblick wohl der verlassenste Mensch auf Gottes Erdboden Sein Anblick dokumentiert auf eindrucksvolle Weise, wie schrecklich er sich fühlen muss...
Der Vertreter der ÖBB, in dieser Situation Herr über Wohl und Wehe, gibt sich einer längeren Überlegung hin und reicht dann, ohne jeglichen Kommentar die Reiseunterlagen an den augenscheinlich total Verzweifelten zurück. Ich empfinde Hochachtung für diesen Menschen in Uniform, der - obwohl Beamter - ein hohes Maß an Feingefühl erkennen lässt. Er wünscht noch eine gute Reise, verlässt das Abteil und schließt die Tür.
Der sichtlich erleichterte Sünder schaut flehentlich zu seinem Weibe hin, die ihm jedoch ihren Blick verweigert. So, als wolle sie ihm bedeuten, was für ein Versager er doch wäre, was für ein Waschlappen. Man kann die Verachtung förmlich spüren, die sie für ihn empfindet...
Uns schaut er nicht an, dazu fehlt ihm offensichtlich der Mut. Für uns beide ergibt sich nun eine völlig veränderte Situation. Da das Lehrerehepaar durch sein nachgewiesenes Fehlverhalten sämtliche "Ehrenrechte eines Bahnreisenden" verloren hat, sehen wir uns ermutigt Ansprüche auf das Territorium zu erheben, welches die beiden Betrüger bisher unrechtmäßig besetzt hielten. Das junge Mädchen fährt ihr "Fahrgestell" deutlich weiter aus, und ich entledige mich meiner Schuhe, um meine Füße schräg hinüber in Richtung Tasche auszustrecken. Es macht mir auch keinerlei Probleme den "Fremdbesitz" mit meinen, wenige Stunden zuvor frisch gewaschenen Füße zu berühren. Die Frau Lehrer zieht darauf hin ihre Tasche mit einem energischen, deutlich erkennbaren Rück etwas mehr zu sich, und ich unterdrücke nur mühevoll ein kleines, unreines Lächeln, welches einer gewissen Schadenfreude nicht entbehrt. Der so vollzogene Gebietsanspruch zieht keinerlei böse Blicke nach sich, denn unsere beiden Mitreisenden sind deutlich geschrumpft...
Der arme Sünder wendet sich - sichtlich erfreut über seine wieder gewonnene Fassung - weiterhin leiblichen Genüssen in Form eines Bechers mit Liptauer (das ist ein spezifischer österreichischer Brotaufstrich, bestehend aus Schichtkäse, Margarine, edelsüßem Paprika, Kapern, gewürfelten Essiggurken, gehackten Zwiebeln, Salz und Pfeffer) zu. Dazu einen Kornspitz, und beide Dinge isst er wieder in der bereits eingangs erwähnten Geschwindigkeit. Seine liebe Frau schaut weiterhin gelangweilt beim Fenster hinaus; die junge Mitreisende wendet sich wieder ihrem Taschenroman in englischer Sprache zu, und ich packe meinen Discman aus (das ist ein batteriebetriebener, tragbarer CD-Player), lege eine Scheibe von Celin Dijon ein, setze mir die Kopfhörer auf und gebe mich dem Musikvergnügen hin. Ich bin rundherum zufrieden mit dem Stand der Dinge, genieße den Sonnenschein, der durch das Fenster - vorbei an der Frau Lehrer - ins Zuginnere hereinfällt und freue mich schon sehr auf meine idyllische schwäbische Kleinstadt.
Nachzutragen wäre noch, dass sich diese Geschichte tatsächlich zugetragen hat, und zwar am 17. Mai 1998. Die Frage, ob es sich um ein österreichisches oder um ein deutsches Ehepaar gehandelt hat, bleibt vom Verfasser unbeantwortet. Und was den mutmaßlichen Beruf des mitreisenden Herrn betrifft, so ist dieser sicherlich nicht spezifisch für sein Verhalten... oder doch?

Eine Text von: Julo

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