Diesmal kein Traum, sondern Georges Simenon
Wer Simenon hört, denkt an Kommissar Maigret, an Jean Gabin als Maigret, an Krimis und Leichen. Ging mir ebenso, bis ich seinen Brief an meine Mutter gelesen habe, einen Brief, den er ihr drei Jahre nach ihrem Tod schickte.
Seine Mutter war übrigens so abergläubisch, dass sie das Geburtsdatum ihres Sohnes fälschte und behauptete, Georges wäre am Donnerstag dem 12. geboren, und nicht an einem Freitag dem 13.
1968 feierte die rüstige Henriette Simenon ihren 90. Geburtstag, gab Fernseh-Interviews, scherzte. Zwei Jahre später lag sie im Sterben im Hopital de Bavière, ein katholisches Krankenhaus, in dem Simenon einst Chorknabe "aufgetreten" ist.
Er saß Wochen lang an ihrem Bett, schweigsam und geduldig, hilfsbereit und verständnisvoll. An sich ein Idealbild des musterhaften Sohn. Aber in den Gesprächen mit den zuständigen Behandlungsarzt gab es nur zwei Themen: seine Probleme mit seiner psychisch labilen Tochter (die später tatsächlich Selbstmord begann) und sein dringendes Bedürfnis, ein Paar Frauen aufzutreiben, mit denen er schlafen konnte.
In April 1974 beginnt er also mit dem Brief an seine tote Mutter (ich habe dich nie Mama genannt. Warum? Ich weiß es nicht), da er zugeben muss, dass er seine keine Ahnung hat, was für Menschen seine Eltern gewesen sind: Ich musste siebzig und noch älter werden, um zu erkennen, dass meine ganze Vergangenheit, deine und die meines Vaters, die für alles, was meine Persönlichkeit geformt hat, so bedeutungsvoll ist, wie eine leere Wand vor mir steht.
Er erinnert sich lediglich an Szenen und Situationen, die IHN berührten, nicht die anderen. Er hatte z.B., nachdem er reich wurde, seiner Mutter regelmäßig Geld geschickt. Sie hatte es jedoch nicht ausgegeben, sondern heimlich in Goldmünzen umgetauscht und diese wiederum in drei kleine Stoffsäckchen verteilt und ihren Enkeln, Simenons Kindern, geschenkt: Du wolltest niemandem etwas zu verdanken haben, nicht einmal und vielleicht vor allem nicht deinem eigenen Sohn.
Er schreibt auch, wie verblüfft er war, als die ewige Jahre verwitwete Mutter einen anderen geheiratet hatte: Als ich zwanzig Jahre alt war, warst du ungefähr vierzig, und die Idee, dass du noch einen Mann lieben könntest, schien mir beinahe unanständig. In meinen Augen hattest du dein Leben hinter dir, du hattest begonnen, eine alte Frau zu sein.
Als es ihr immer schwerer vorkam, sich zu versorgen, will der Sohn seine Mutter in einem Luxus-Altersheim unterbringen. Sie lehnt ab. Sie wollte in ihrem Haus das endlich schuldenfrei war und ihr allein gehörte! bleiben. Das Haus war für sie schließlich mehr als ein Gebäude, es war ein Symbol für den Sieg ihres eisernen Willens, für den Erfolg des einst bitter armen Mädchens.
Nun lag sie im Sterben.
Ich hatte das Ereignis von Minute zu Minute erwartet, aber als es wirklich eintraf, war es doch ein heftiger Schock...Du lagst mit heiterem Gesicht da. ES war von einer heiteren Gelassenheit, die es im Leben nicht gibt...und ich begriff, dass du dein ganzes Leben lang gut warst. Nicht unbedingt gut gegen die anderen, aber gute gegen dich selber, gut in deinem tiefsten Inneren. ...In deinem Herzen war ein unerschöpflicher Schatz von Mitgefühl und Geduld für alle. Es gab nichts, was dich abstieß. Im Gegenteil. Je schwieriger die Aufgabe war, desto fester hast du dich daran geklammert.
30-40 Seiten länger ist Simenons Brief nicht. Ein Mauerblümchen also, verglichen mit den Abertausenden von Seiten seiner über 400 Romane.
Und doch ist es für mich ein literarisches Kleinod:
Schonungslos, schnörkellos, stilistisch schlicht. Obwohl irgendwie erbarmungslos. Nichts wird beschönigt...und es macht nicht viel Sinn, diesen Brief mit Franz Kafkas Brief an den Vater zu vergleichen. Kafka hatte Angst vor seinem Vater, suchte nach den existentiellen Gründen seiner Autorität. Simenon erkennt einfach nur, dass er seine Mutter liebte: So lange du lebtest, haben wir einander nie geliebt, das weißt du ja. Wie haben beide nur so getan.
Was sich wiederum geradezu anbietet, ist ein Vergleich mit Simone de Beauvoirs Büchlein Ein sanfter Tod. Auch sie beschreibt das Sterben ihrer Mutter, auch ihre Mutter lag im Krankenhaus, auch sie wachte tage- und nächtelang am Sterbebett. Und doch rührt (mich) ihr Bericht weniger, um nicht zu sagen kaum. Nicht weil sie wohl wissend, dass ihrer Mutter kaum noch Zeit bleibt es für unabdingbar hielt, ihren Mann Sartre auf einer Vortragsreise nach Prag zu begleiten.
Was fehlt, ist die lyrische Distanz, die das Sterben würdevoll erscheinen lässt. Die Star-Feministin liefert einen wunderbar geschriebenen, detailreichen Abschlußbericht, aber wagt nicht jene Bereiche ihres Schmerzes anzuzapfen, die unerträglich sind. Sie schont sich.
Simenon wagt es ... aber vielleicht ist der Tot der Mutter für eine Tochter anders (qualvoller?) als für einen Sohn.
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