Blaue Stunde I

Er ging am Ufer des Flusses entlang, die Sonne stand tief und malte lange Schatten auf den Weg. Seevögel ließen sich auf den Wellen treiben, er hörte das Rauschen des Wassers und seine Blicke schweiften über die weite Landschaft. Alles schien so ruhig, so glücklich, ein Lächeln huschte über sein Gesicht. Am Ende des Weges erreichte der junge Mann die Brücke, bog in eine kleine Straße ein und wenige Meter weiter stand er vor einem hohen Zaun, hinter dem sich eine weiße Villa verbarg. Das Gartentor knarrte, als er die Klinke nieder drückte. Gregor wartete einen Augenblick bevor er das Grundstück betrat. Auch wenn er diesen Weg schon oft gegangen war, fühlte er immer noch Nervosität und Herzklopfen in dem Bemühen, in lässiger Haltung zur Haustüre zu gelangen.

Der silberne Klang der Türglocke schickte elektrische Stöße durch sein Rückgrat. Er hörte Schritte, die Türe öffnete sich. Martha! Sie trug ein weißes, hauchdünnes Etwas, sein Pulsschlag beschleunigte sich, die Brust wurde ihm eng.

Martha! Er war Vierundzwanzig, auf dem Weg zu einem erfolgreichen Pianisten und ziemlich unerfahren, was den Umgang mit Frauen betraf. Auf einem Empfang war er ihr begegnet, auf einer dieser langweiligen Einladungen, die man versuchte, schnell wieder zu verlassen. Doch plötzlich erschallte ein Lachen, dem sich alle Köpfe im Raum zuwandten. Eine Frau betrat den Raum, begleitet von einigen jungen Herren, die sich um sie herum bewegten, als wollte ihr jeder als erster zu Füßen liegen. Sie war groß, rothaarig und ihre wogenden Formen steckten in einem unglaublichen Kleid, das mehr preisgab als verhüllte.
Gregor konnte den Blick nicht von ihr wenden, genauso wenig wie all die anderen Männer, die von ihr fasziniert und begeistert waren. Da war etwas an dieser Frau, das nicht real zu sein schien. Sie verströmte sexuelle Energie, die geradezu beängstigend war. Er versuchte sich dichter an sie heran zu schieben und als er es endlich geschafft hatte, fuhr ein heißer Strom der Erregung durch ihn hindurch. Sie hatte ihn entdeckt, ihre Augen begegneten sich für Sekunden, hielten einander fest, ein Taumel erfasste ihn und drohte, ihn davon zu tragen. Von diesem Augenblick an wusste Gregor, dass er sie haben musste. Die Tatsache, dass diese Frau mit den roten, wallenden Locken, den grünen Augen und den ausladenden Kurven um so viel älter als er zu sein schien, war nicht wichtig, eine schmale Kluft nur, die mit Charisma und Begehren leicht zu überwinden war.
Einem glücklichen Umstand war es zu verdanken, dass Gregor auf einen Freund stieß, der die Frau kannte und ihn vorstellte. Es kostete ihn einige Überwindung, ihr seine zitternde Hand zu reichen. „Sagen Sie Martha zu mir“, sagte sie und schenkte ihm einen tiefgründigen Blick. Später flüsterte sie ihm zu, er solle sie doch einmal in ihrer Villa besuchen. „Kommen Sie am Mittwoch zur Blauen Stunde.“ Als er sie fragend anschaute meinte sie: „Mein Mann ist dann in der Oper. Bei den Proben.“ Und sie lachte, kein bisschen nervös, wie er fand.

Nur wenige Tage später lief Gregor am späten Nachmittag durch den fremden Garten, an duftenden Blumen und Sträuchern vorbei, die im Glanz der untergehenden Sonne purpurn leuchteten, und schellte an Marthas Tür. Sie trug ein schwarzes Kleid mit einem tiefen Ausschnitt und sah bezaubernd aus. Als sie ihm zur Begrüßung einen Kuss auf die Wange hauchte fühlte er sich von schweren Düften benebelt, die aus der Tiefe ihres wogenden Busens zu kommen schienen. Der Salon erstrahlte im Licht unzähliger brennender Kerzen, die Drinks waren vorbereitet. Gregor war beeindruckt und auch sprachlos.
„Nun?“, fragte sie.
„Nun?“, erwiderte er mit einem Schulterzucken.

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