Maria

  • Maria

     FlorianS antwortete vor 5 Jahren, 10 Monate 2 Teilnehmer · 2 Beiträge
  • margarita

    Organisator
    26. Dezember 2019 um 18:14

    Die Nacht ihrer ersten Geburt war 
    Kalt gewesen. In späteren Jahren aber
    Vergaß sie gänzlich
    Den Frost in den Kummerbalken und rauchenden Ofen
    Und das Würgen der Nachgeburt gegen Morgen zu.
    Aber vor allem vergaß sie die bittere Scham
    Nicht allein zu sein
    Die dem Armen eigen ist.
    Hauptsächlich deshalb
    Ward es in späteren Jahren zum Fest, bei dem
    Alles dabei war.
    Das rohe Geschwätz der Hirten verstummte.
    Später wurden aus ihnen Könige in der Geschichte.
    Der Wind, der sehr kalt war
    Wurde zum Engelsgesang.
    Ja, von dem Loch im Dach, das den Frost einließ, blieb nur
    Der Stern, der hineinsah.
    Alles dies
    Kam vom Gesicht ihres Sohnes, der leicht war
    Gesang liebte
    Arme zu sich lud
    Und die Gewohnheit hatte, unter Königen zu leben
    Und einen Stern über sich zu sehen zur Nachtzeit.
    Bert Brecht

  • FlorianS

    Teilnehmer
    28. Dezember 2019 um 16:33

    Das Gedicht mit dem lapidaren Titel »Maria« ist das Pendant zu den wohl populärsten Weihnachts-Marien-Liedern, die von »stiller Nacht« und dem »holden Knaben im lockigen Haar« künden.

    So viel Rührseligkeit! Dabei ist es in jener Nacht sicher kalt gewesen, bitterkalt. Wie soll da ein Neugeborenes überleben? Wie müssen wir uns eine Geburt unter dem rohen Geschwätz von Hirten vorstellen? Die Scham Marias, nicht allein sein zu können beim Gebären, das Fehlen jeglicher Intimität. Brecht entmystifi-
    ziert die Weihnachtsidylle und deckt gleichzeitig das Bedürfnis nach Verklärung, nach rückwärtsgewandter Beschönigung auf.

    Brecht offenbart sich als Mensch, der ins Herz der Glaubens-
    botschaft vordringt. Dass Marias Erinnerung zu einem versöhnenden Akt der Aneignung des Durchstandenen, der Umdeutung des Schweren in das letztlich doch Schöne und Erwärmende kommt, hat mit den Kind zu tun: »Alles dies kam vom Gesicht ihres Sohnes …«

    Alles scheint geerdet und zugleich geheimnisvoll: weder klagend noch anklagend, weder banalisiert noch überhöht. Weihnachten ist das Wiederanfangen mit dem Menschensohn, der das Singen liebte, mit den Armen feierte und die Gewohnheit hatte, »einen Stern über sich zu sehen zur Nachtzeit«.

    Dem Stern folgen? Führt er uns durch die Wüsten der Zeit?

    Die Auslegung fand ich bei Friedrich Schorlemmer.

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