Vom Büblein auf dem Eis

  • Vom Büblein auf dem Eis

     Driftwood antwortete vor 4 Jahren, 2 Monate 3 Teilnehmer · 3 Beiträge
  • Unbekannt

    Teilnehmer
    6. August 2021 um 19:51

    Das ist die Geschichte eines sechsjährigen Knaben, der im Hause seiner Großeltern heranwuchs und dort im Sinne preußischer Tugenden erzogen wurde. Dafür sorgte vor allem der Großvater, der einer kinderreichen Familie entstammte, die ihn 1884, als er noch keine 13 Jahre alt war, in eine Kadettenschule schickte. Dort brachte man ihm Kaisertreue und unbedingten Gehorsam bei, aber auch Aufrichtigkeit und Hilfsbereitschaft.

    Es war wohl der Gedanke an seine Verantwortung für mich, dass ich nicht auf der Straße spielen durfte und die Sorge um einen möglicherweise unziemlichen Umgang, dass ich keine fremden Kinder mit in den Garten bringen oder gar ins Haus einlassen durfte. Wir wohnten am Eingang eines großen Stadtparkes, den ich gern als meine Spielwiese betrachtete, auch wenn es danach mitunter Schelte gab, dass ich mich unerlaubt so weit entfernt hatte.

    Brach im Winter über Nacht strenge Kälte herein, hatte Großvater stets ein Gedicht parat, das er mir mit Pathos vortrug. Es sollte Warnung sein vor dem, was dann doch geschah.

    Gefroren hat es heuer
    noch gar kein festes Eis;
    das Büblein steht am Weiher
    und spricht so zu sich leis:
    ich will es einmal wagen,
    das Eis, es muss doch tragen.-
    Wer weiß?

    Das Büblein stampft und hacket
    mit seinen Stiefelein,
    das Eis auf einmal knacket,
    und Krach! Schon bricht´s hinein.
    Das Büblein platscht und krabbelt
    als wie ein Krebs und zappelt
    mit Schreien.

    Genauso ist es mir eines Wintermorgens an einem Teich im Park ergangen. Ich kam völlig unter Wasser und hatte in diesem Moment Lebensangst, denn ich war zu dieser Zeit noch Nichtschwimmer. Lesen wir zunächst den Schluss des Gedichtes, auch wenn der tatsächliche Ausgang des Geschehens ein etwas anderer war:

    O helft, ich muss versinken
    in lauter Eis und Schnee!
    O helft, ich muss ertrinken
    im tiefen, tiefen See!
    Wär´nicht ein Mann gekommen,
    der sich ein Herz genommen,
    o weh!

    Der packt es bei dem Schopfe
    und zieht es dann heraus,
    vom Fuß bis zu dem Kopfe
    wie eine Wassermaus.
    Das Büblein hat getropfet,
    der Vater hat´s geklopfet
    Zu Haus.

    Mir kam kein Mann zuhilfe, um mich am Schopfe aus dem Wasser zu ziehen. Mit den Händen die Böschung erfassend, konnte ich selbständig ans Ufer klettern. Doch was nun? Vor der zu erwartenden Strafe hatte ich große Angst. In der Wahnvorstellung, selbst bei diesen frostigen Temperaturen die Kleidung am Körper trocknen zu lassen, setzte ich mich auf eine nahe Bank. Das ganze Geschehen sah zum Glück ein Nachbar, der von seinem Haus aus Einblick in den Park hatte. Er rief und fuchtelte mir von Weitem zu, dass ich nach Hause gehen soll. Doch gerade davor hatte ich doch solche Angst! Schließlich dauerte es aber nicht lange, bis mich mein Großvater holte, der von jenem Nachbar über mein Missgeschick informiert worden war.

    Wie erstaunt und froh war ich, als die befürchteten Vorwürfe maßvoll ausfielen. Man rubbelte mich trocken und dann wurde ich mit einer Wärmflasche ins Bett gesteckt. Großmutter sagte besorgt: “Hoffentlich hast du dich nicht erkältet. Komm, trink diesen heißen Tee!”

    Wenn ich später als Erwachsener an diese Episode erinnert wurde, erkannte ich, dass sich hinter aller Strenge meiner Erziehung ein gerüttelt Maß herzlicher Liebe verborgen hatte. Und dafür danke ich meinen Großeltern im Nachhinein.

    Im Nachgang noch ein Wort zu dem Gedicht.
    Als das Unglück geschah (1938), war mein Großvater 67 Jahre alt. Das Gedicht muss er schon als Kind gelernt haben. Erstaunlich seine flüssige und ausdrucksstarke Deklamation nach so langer Zeit. Es gelang mir, Autor und vollständigen Text, der mir nur bruchstückhaft in Erinnerung war, zu ermitteln. Die Verse stammen von Friedrich Güll (1812-1879), einem heute völlig unbekannten Dichter, der aber zu Großvaters Jugendzeit (*1871) einen guten Bekanntheitsgrad gehabt haben mag.

    wds

  • etaner34

    Teilnehmer
    6. August 2021 um 22:50

    @Stapsi

    In meiner Schulzeit stand das Gedicht im Lesebuch für das vierte Schuljahr. Ich kann es auch auswendig, weiß aber nicht, ob wir das lernen mussten.

    „Der Vater hat‘s geklopfet“ erregte damals keinen Anstoß. Dein Großvater hat‘s wohl auch n i c h t getan.

    Schön für dich, dass du solche dankbaren Erinnerungen an deine Kindheit haben kannst.

    etaner34

  • Driftwood

    Teilnehmer
    9. August 2021 um 10:33

    @Stapsi vielen Dank für diese Geschichte aus deinen Kindheitstagen Stapsi. es immer wieder erstaunlich, an welche Dinge wir uns erinnern können. Dinge, die von so viel nachfolgendem zugeschüttet wurden und doch dem inneren Auge sichtbar bleiben. VG Driftwood

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