TOR oder: Wo das Glück wohnt

  • TOR oder: Wo das Glück wohnt

     Paesi antwortete vor 3 Jahren, 4 Monate 1 Teilnehmer · 1 Senden
  • Paesi

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    13. Juni 2022 um 10:26

    Da stand er nun schon wieder davor, vor dem Tor, hinter dem das Glück wohnte, wie seine Mutter es nannte. Aber warum war es verschlossen, warum durfte niemand das Glück sehen und warum rollte sein kleiner zerschlissener Ball immer wieder dorthin, als wäre es ein Fußballtor?

    „Kind, das verstehst du noch nicht“, pflegte seine Mutter zu sagen. Sie meinte, das Glück lässt sich dort nieder, wo es ihm an Nichts mangelt – reichlich zu essen, feine Wäsche, geräumige Zimmer und natürlich glückliche Menschen.

    Das konnte er nicht so recht verstehen. Gut, reichlich zu essen hatten sie nicht immer, aber man wurde satt und seine Mutter war fantasievoll im Zubereiten der Mahlzeiten. Zwar ähnelten sich meist die Zutaten, doch die Namen, die seine Mutter erfand, klagen so fantastisch, dass er meinte, er äße immer etwas einzigartig Köstliches. Feine Wäsche? Wozu? Jeden Tag so etwas wie den guten Sonntagsstaat tragen müssen? Das gäbe sowieso nur Ärger. Er liebte es, draußen herumzutollen, durch die Felder zu flitzen, sich im Gras zu kugeln, durch den Bach zu waten und Ball zu spielen. Täglich feine Wäsche? Nein, die brauchte er nun wirklich nicht. Ein größeres Zimmer? Am liebsten lag er auf dem Heuboden. Und der war natürlich groß genug. So im Großen und Ganzen erfüllte alles die Ansprüche an das Glück.

    „Da gibt es bestimmt noch etwas, was die Erwachsenen verheimlichen“, dachte er, indem er sich nach seinem Ball bückte, der mitten vor dem Tor lag. Da, das Tor öffnete sich. Verflixt, noch bevor er sich aufrichten und einen Blick dahinter werfen konnte, war es bereits wieder geschlossen.

    „Schade“, stöhnte er. „Was ist schade?“, piepste ein feines Stimmchen in sein Ohr. „Na, das … .“, Er war sprachlos, was eher selten vorkam. Da stand ein weibliches Wesen vor ihm. Sie sah ganz anders als die Mädchen aus, die er kannte und die er an den Zöpfen zog. Das Geschöpf vor ihm war sicher ein Traum, so eine Art Fee und würde ihn gleich nach seinen Wünschen fragen.

    „Willst du mit mir spielen? Dann komm schnell mit in unseren Garten. Den Ball kannst du hier lassen. Ich habe auch einen.“ Sie öffnete das geheimnisvolle Tor und gab ihm ein Zeichen, ihr zu folgen. Er rieb sich die Augen, es war kein Traum, er schritt durch das Tor, hinter dem das Glück wohnt. Schon wieder gefasster sagte er zu sich selbst: „Na dann wollen wir doch mal sehen, wie das mit dem Glück so ist.” Er stellte fest, dass alles gar nicht so viel anders aussah. Der Rasen war nicht grüner, aber kerzengerade, das Haus größer, aber dafür gab es keine Scheune und feine teure Sonntagskleidung schienen sie hier täglich zu tragen, so konnte er es zumindest der Wäsche auf der Leine entnehmen. Und der Duft aus dem Haus gab ihm zu verstehen, dass auch hier jemand verstand, etwas Gutes auf den Tisch zu zaubern.

    Ah, da lag doch ein Ball. Er sah fast wie neu aus. „Gut, spielen wir“, und er rannte sofort auf den Rasen. „Halt, halt!!!!!!!!!! Wir dürfen nicht auf die Wiese, das gibt Ärger. Sie war sehr teuer und Papa mag keine Trittspuren.“ „He, he!!!!!!!!! Du darfst den Ball nicht mit den Füßen treten. Er war teuer und Mama mag es nicht, wenn ich meine Spielsachen kaputt mache.“ „Stopp, stopp!!!!!!!!!!! Du darfst nicht einfach in die Küche laufen. Unsere Köchin mag es nicht, wenn wir ihr Reich betreten.“

    Nun verstand er gar nichts mehr. So sah die Welt aus, in der das Glück wohnte? Außer dem Mädchen hatte er noch niemanden gesehen, deshalb fragte er: „Wo wohnen denn die glücklichen Menschen?“ Sie zog die Schultern hoch und senkte sie wieder. „Also, wenn du willst, können wir auch wieder vor das Tor gehen und spielen“, schlug er vor. „Du meinst dahinter?“ „Das ist wohl Ansichtssache“, dachte er laut.

    Dann rannten sie auch schon hinaus, über die Wiesen, kullerten durch das Gras, lachten und tollten auf dem Heuboden herum, ließen Papierschiffchen im Bach schwimmen, spielten Haschen, und Fußball auf dem Hof. Dann nahm er das Mädchen bei der Hand und zog sie hinter sich her in die kleine gemütliche Küche. „Setzt euch und esst“, so lud die Köchin und Mutter in einer Person die beiden ein. „Aber wascht euch wenigstens die Hände.“

    „ Ich muss zurück, bevor man mich vermisst“, sagte das Mädchen. Es klang etwas wehmütig. Er begleitete sie noch bis zum Tor, zog sie nun doch noch beim Auf-Wiedersehen-Sagen an den Zöpfen und flüsterte ihr ins Ohr: „Oh, dein feines Kleid ist ganz schmutzig. Es war bestimmt teuer. Das gibt Ärger, das kenne ich auch.“ Sie verschwand mit einem Lächeln und sah irgendwie zufriedener aus, zufriedener als er sie am Vormittag vor dem Tor getroffen hatte.

    „Vor dem Tor“, überlegte er, wo ist vor oder hinter dem Tor? Für sie ist hinter dem Tor das, was für mich davor ist. Für sie ist es das Neue, Aufregende, für mich das Alltägliche. Für mich ist hinter dem Tor, was für sie davor ist, ihre Welt, neu für mich, doch seltsam und fremd. Und für meine Mutter wohnt hinter dem Tor das Glück mit glücklichen zufriedenen Menschen. Zufrieden?“ Er dachte an das Mädchen.

    Schnell rannte er heim. Er musste unbedingt seiner Mutter erzählen, wie unrecht sie hatte: Das Glück wohnt nicht hinter dem Tor, es wohnt davor!!!!!!!

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