Nachts im Zwergengarten

  • Nachts im Zwergengarten

     Suffade antwortete vor 1 Jahr, 2 Monate 3 Teilnehmer · 4 Beiträge
  • Suffade

    Teilnehmer
    9. August 2024 um 13:09

    Der alte Mann im schäbigen Mantel war müde geworden. Seine Füße verlangten ein Ausruhen vom ständigen in Bewegung sein. Die Straße lag still vor ihm. Sein Weg führte ihn in den Zwergengarten nahe dem Schloss Mirabell. Ein Stück hinter dem Pegasus-Brunnen ist ein hübscher Rosengarten angelegt. Dort wollte er die Nacht verbringen. Es hatte aufgehört zu regnen.
    Ein paar Schritte vor sich sah der vom Tag erschöpfte Mann ein weißes Etwas im Rinnsal liegen. Langsam schlurfte er auf den Gegenstand zu. Seine Augen waren nicht mehr die besten und erst als er vor dem Buch stand, konnte er es als solches erkennen. Der Rücken war steif geworden von vielen Nächten auf Parkbänken, das erschwerte ihm das Bücken. Mühsam nahm er das vom Regen durchnässte Buch auf. Eigentlich war es nur ein Büchlein ohne Umschlag, dünn und zerknittert lag es in seiner Hand. Er hielt es unter die Parklaterne um den verwischten Aufdruck am Deckblatt lesen zu können.
    Er versuchte den Titel zu entziffern. “Kunst des Lebens” oder hieß es “Kunst des Liebens”? Ein stilles Lächeln legte sich über sein Gesicht, das sich im Laufe der Jahre in tiefe Falten zusammengeschoben zu haben schien. Er hielt das Buch bedächtig in seiner Hand und nahm es mit zu sich auf die Parkbank, neben den Rosen im Zwergengarten. Lieben oder Leben? Für ihn machte das keinen Unterschied.Er richtete seinen Platz für die Nacht. Legte behutsam eine Decke auf die Bank und stapelte das in einem Plastiksack vor dem Regen bewahrte, trockene Zeitungspapier zu einem gepolsterten Gebilde auf.
    Die schmiedeeiserne Laterne spendete nicht sehr viel Licht, aber für ihn bildete sie eine behagliche Atmosphäre. Er räusperte sich, wischte sich kurz die Augen, um sie klarzumachen. Dann begann er die Geschichte über die Kunst des Lebens oder eben des Liebens zu lesen.
    Die Augen wollten ihm zufallen, aber es war ihm ein Bedürfnis, nach langer Zeit wieder ein Buch zu lesen. Er legte das Büchlein vorsichtig auf seinen Bauch, nahm aus dem Mantelsack ein Bonbon, wickelte es aus dem Stanniolpapier bedächtig aus und steckte es in seinen Mund. Vorne beim Gymnasium hatte es ihm ein Mädchen als nette Geste für einen Obdachlosen gereicht. Jetzt war es ein willkommenes Naschwerk während seiner nächtlichen Studie über die Kunst des Lebens. Genussvoll am süßen Zuckerwerk schmatzend, nahm er das Buch wieder in seine Hand.
    Der Autor ließ ihn wissen, dass alles ganz leicht wäre, sofern er seinen Instruktionen folge. Wenn erst einmal die Sprossen der Karriereleiter erreicht seien, weiter empor zu schreiten bis in jene Etagen, wo auch das große Geld daheim ist. Und dann – so versprach das Buch dem bonbonlutschenden Mann auf seiner Bank, dann habe er es geschafft. Er könne sich danach alles leisten, was er wolle und sei es nur in einem prachtvollen Park des Nachts in die Sterne zu blicken.Er schlug das Büchlein zu und sagte: Die Kunst des Lebens scheine ich doch zu beherrschen, wer hätte das gedacht. Dann schloss er seine müden Augen und schlief ein.

  • happyday

    Teilnehmer
    9. August 2024 um 18:18

    @Suffade

    Auch diese Geschichte habe ich mit großem Vergnügen gelesen.

    Dem Ende der Geschichte ist nichts hinzu zu fügen, er hat verstanden, was wichtig ist.

    LG – happyday

  • Suffade

    Teilnehmer
    9. August 2024 um 19:58

    Dankeschön 😊

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