Jeder altert anders (II Marianne)

  • Jeder altert anders (II Marianne)

     Mondin antwortete vor 4 Jahren, 6 Monate 2 Teilnehmer · 3 Beiträge
  • Mondin

    Teilnehmer
    17. April 2021 um 15:57

    Marianne (73 Jahre)

    SEIT WANN BIN ICH ALT?

    Als ich noch keine 50 Jahre gelebt hatte, war das Wissen, dass man spätestens ab 60 zu den Alten gehört, unumstößlich.

    Mit 60 hatte ich das vergessen.

    Das Alter überfiel mich, völlig unerwartet, wenige Monate nach meinem 63. Geburtstag. Ich bemerkte, dass ich mich mit den Händen auf den Knien aufstützte, wenn ich im Garten aus der Hocke in den Stand wollte.
    Da fing ich an, mich zu beobachten.

    Seit wann kriege ich eigentlich den Bus nicht mehr, wenn er schon in dem Moment zu sehen ist, in dem ich die Straße betrete? Wieso sind meine Glieder so schwer, obwohl ich abgenommen habe? Das Knacken in den Knien ist doch auch nicht erst seit gestern. Wann habe ich angefangen, Lehnstühle zu bevorzugen, statt der niedrigen Sessel, in die man sich so herrlich fläzen kann? Wann hat das Kokettieren mit meinen wenigen grauen Haaren aufgehört?

    Bin ich alt, seit ich es als gegeben hinnehme, dass meine Schultern nicht mehr so beweglich sind und ich mich mit meinen Schwindelanfällen abfinde?

    Fühle ich mich alt, weil ich mir Tage exzessiver Faulheit erlaube oder mir gestatte, nicht mehr auf alles neugierig zu sein?

    Begann mein Alter schon damit, dass ich anfing, Reiseziele von meiner überlangen Wunschliste zu streichen oder erst, als ich nach sechzehn Wandertagen eine Sehnenscheidenentzündung bekam?

    Wollte ich François wirklich unbedingt dieses Jahr noch sehen, weil er so viel älter ist als ich oder fürchtete ich, dass mir die weite Reise zu ihm nächstes Jahr schon zu beschwerlich sein könnte?

    Wie empört war ich über meine Tante, als sie beim Kauf eines Mantels bemerkte, das sei der letzte, den sie brauche. Habe ich nicht beim Kauf des Autos, das ich jetzt fahre, den gleichen Gedanken gehabt?

    Um es deutlicher zu sagen: Überall entdecke ich die untrüglichen Zeichen des Verfalls!

    Überall entdecke ich Hinweise, dass vieles nicht mehr selbstverständlich ist, worüber ich mir bisher keine Gedanken machte.

    Ich bin 73, weder zucker- noch herzkrank, habe normalen Blutdruck, und eine Brille trug ich schon als Kind. Ich kann normalerweise ohne Beschwerden gehen. Und dennoch, die Leichtigkeit ist unwiederbringlich dahin, das Wort „normalerweise“ verdeutlicht die Einschränkung. Die kleinen Wehwehchen, die ich mit einem „Ach, das ist nichts!“ abtue, häufen sich. Etwas auszuheilen dauert immer länger. Immer öfter gelingt es mir nur unvollständig. Immer kürzer werden die Phasen des Bei-bestmöglicher-Gesundheit-sein und das Bestmögliche ist immer weniger. Und immer mehr muss ich tun, um dieses Wenige zu erhalten.

    „Das ist das Alter“, wird mir immer wieder gesagt.

    „Ich fühle mich noch so jung“, von alten Menschen ausgesprochen klang mir früher abgedroschen, banal und zum Kotzen unglaubwürdig.

    Heute denke ich ebenso. Aber es ist nur eine Seite dessen, was ich empfinde. Die andere Seite ist das Gefangen- und Gefesseltsein in einen unübersehbar alternden Körper.

    Ich erinnere mich an Inge, aus deren altem, von Cortison aufgedunsenem Leib die Leichtigkeit ihrer Jugend hervorschien, als sie vor uns zu tanzen wagte. Genau das wünsche ich mir sehnlichst: dass mein Jungsein nicht verloren gegangen ist, noch spürbar ist trotz des bereits gelebten Lebens und der Falten im Gesicht.

    Die Zeit zurück drehen, wieder jung sein, möchte ich nicht. Noch einmal alles vor mir haben, was hinter mir liegt, unwissend sein, voller Unruhe, unfähig mit meinen Sehnsüchten umzugehen, ohne mein Wissen von heute. Nein, das möchte ich definitiv nicht!

    Ich genieße meine Gelassenheit den Ereignissen gegenüber, meine Freiheit gegenüber der Meinung anderer, mein Losgelöstsein von Konventionen und Zwängen, meine mühselig erworbene Fähigkeit, mich und das Leben nicht so ernst zu nehmen.

    Es schert mich nicht, ob Frau Mindel regelmäßig putzt, der Sohn von Peter sich eine Glatze scheren ließ und Rosannas Tochter schlechten Umgang pflegt. Ich sah zu viele „missratene Kinder“ zu Erwachsenen werden, die ihr Leben klüger führen als ich es getan habe, sah zu viele ordentliche, gehorsame Kinder verzweifeln und scheitern.

    Mir scheint, all das sind Zeichen des Alters.

  • happyday

    Teilnehmer
    17. April 2021 um 17:58

    @Mondin mir scheint, dass deine Schlussfolgerung kein ausschließliches Zeichen von Alter ist, sondern von mehr Gelassenheit…Relaxed Sicher braucht der eine mehr, der andere weniger Lebenserfahrung, um gelassen zu werden.

    Zurück zum Altern…Meine Tante wollte zu Beginn meiner Berufstätigkeit keine “komfortable” Behandlung von mir, weil sich das nicht lohnen und sie sowieso bald sterben würde. Leicht amüsiert aber auch entrüstet habe ich widersprochen. Am Ende gab sie nach und erhielt von mir keinen herausnehmbaren Zahnersatz, sondern eine Brücke…Jahre später, als ich längst nicht mehr in ihrer und meiner Heimat lebte, erzählte sie mir wie erstaunt ihr “neuer” Zahnarzt war, dass sie diese Brücke schon so lange hat. Und ich neckte sie damit, dass sich das doch gar nicht lohnen würde…Sie starb mit 95 Jahren mit der festsitzenden Brücke im Mund, 40 Jahre nachdem sie ihre “Überzeugung” geäußert hatte, es lohne sich nicht…

    Was mir an ihrem Altern immer wieder Mut machte, auch älter werden zu wollen, war ihr feinsinniger Humor, der im Laufe der Jahre immer besser wurde. Auch ihr Lachen bleibt mir in Erinnerung, wenn sie mir davon erzählte, wie bei Krankenhausaufenthalten sie von Schwestern aufgefordert wurde, ihre Zähne in eine Schale zu legen. Und sie zwar den Mund öffnete, an ihren Zähnen wackelte und dann fragte, …sie sind noch fest, wie soll ich sie heraus nehmen ?

  • Mondin

    Teilnehmer
    18. April 2021 um 19:29

    @happyday das mit den Zähnen passierte ähnlich auch einer Tante von mir. Sie wurde zum Schädelröntgen aufgefordert, ihre Zähne heraus zu nehmen und antwortete mit “Das kann ich nicht”. Dabei machte sie mir das Gesicht vor, dass die Assistentin zog, die annahm, SIE müsse der alten Frau das Gebiss herausholen!

    Mondin

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