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Fremdbestimmt – Ein Leben zwischen Pflicht und Selbstsuche
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Fremdbestimmt – Ein Leben zwischen Pflicht und Selbstsuche
Mit dem Eintritt in den Ruhestand endet nicht nur ein Arbeitsleben – für viele beginnt eine existenzielle Suche nach dem eigenen Platz in einer Welt, die sich weiterdreht, auch wenn man selbst stehenzubleiben scheint. Der Mann, von dem in „Fremdbestimmt“ die Rede ist, steht exemplarisch für eine ganze Generation: früh in den Beruf eingestiegen, Jahrzehnte gearbeitet, Verantwortung getragen – und nun plötzlich allein mit sich selbst.
48 Jahre hat er gearbeitet, mit fünfzehn begonnen, mit 65 in Rente gegangen. Sein berufliches Leben war geprägt von Disziplin, Verantwortung und Erfolg – aber auch von Fremdbestimmung. Fast fünf Jahrzehnte lang wurde sein Alltag von äußeren Anforderungen gelenkt: von den Bedürfnissen der Firma, den Erwartungen seiner Vorgesetzten, den Pflichten gegenüber seiner Familie. Entscheidungen traf er oft nicht aus freien Stücken, sondern im Dienst einer Rolle. Der Mensch hinter der Funktion trat dabei immer weiter zurück.
Er war Vorgesetzter von vierzig Mitarbeitern, definierte sich über Leistung, Klarheit, Durchsetzungsfähigkeit. Doch mit der Annäherung an das Rentenalter wurde er zunehmend ausgegrenzt. Fortbildungen? Nicht mehr nötig. Projekte? Lieber an Jüngere übertragen. Anerkennung? Nur noch in Form von Neid auf den bevorstehenden Ruhestand. Der Mensch wurde bereits vor dem offiziellen Abschied aus dem System verabschiedet – leise, aber spürbar. Fremdbestimmt – bis zum letzten Arbeitstag.
Sein Alltag war eine „geistige Monokultur“. Interessant, ja – aber eng. Die Anpassung an das Berufsleben bedeutete den Verlust von jugendlicher Neugier und Phantasie. Mit dem Eintritt in die Rente keimt die Sehnsucht nach Selbstbestimmung auf – doch der Preis ist hoch: Orientierungslosigkeit, ein Vakuum an Bedeutung und Selbstwert. Die Frage, „Wofür bin ich jetzt noch da?“, trifft mit voller Wucht. Denn was bleibt übrig, wenn die Struktur von außen wegfällt?
Er lebt mit seiner Frau, seine Tochter ist längst ausgezogen, führt ihr eigenes Leben. Die Familie ist da – aber auf Abstand. Besuche zu Festtagen ersetzen keine tägliche Nähe. Die Erkenntnis ist bitter: Liebe kann bestehen bleiben, aber sie verändert sich, wenn Rollenbilder wie „Ernährer“ oder „Beschützer“ wegfallen. Was bleibt, wenn man nichts mehr geben kann, was in der bisherigen Welt als wertvoll galt?
Er versucht, den Anschluss zu halten, liest Fachliteratur, will nicht loslassen. Doch Wissen ist vergänglich, wenn es nicht gebraucht wird. Der technische Fortschritt verläuft gnadenlos schnell – und der einstige Experte wird zum Außenstehenden. Der Besuch am alten Arbeitsplatz verdeutlicht die Entfremdung. Die Vergangenheit lässt sich nicht konservieren, wenn keine neue Gegenwart mehr entsteht.
Der Weg heraus aus dem fremdbestimmten Leben führt nicht automatisch in die Freiheit – sondern zunächst in eine Leere. Nach Jahrzehnten der Funktion muss er mühsam wieder lernen, zu fühlen, zu wünschen, zu gestalten – nicht im Dienste anderer, sondern seiner selbst. Das verlangt Mut. Sein Selbstwert, einst genährt durch äußere Anerkennung, muss nun aus innerer Überzeugung kommen.
„Fremdbestimmt“ ist deshalb nicht nur eine persönliche Erzählung. Es ist ein Spiegelbild unserer Gesellschaft, die den Wert eines Menschen oft an seiner Produktivität misst. Es ist ein stiller Appell an uns alle: Der Ruhestand ist nicht das Ende, sondern eine Einladung zur Neudefinition. Doch dafür braucht es mehr als Rente – es braucht Resonanz, Aufgabe, Sinn. Und vor allem: die Rückkehr zur Selbstbestimmung.
Ein Essay von Michael Deschamps
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