Fremdbestimmt – Ein Leben zwischen Pflicht und Selbstsuche

  • Fremdbestimmt – Ein Leben zwischen Pflicht und Selbstsuche

    Von Berserker am 17. Mai 2025 um 13:51

    Mit dem Eintritt in den Ruhestand endet nicht nur ein Arbeitsleben – für viele beginnt eine existenzielle Suche nach dem eigenen Platz in einer Welt, die sich weiterdreht, auch wenn man selbst stehenzubleiben scheint. Der Mann, von dem in „Fremdbestimmt“ die Rede ist, steht exemplarisch für eine ganze Generation: früh in den Beruf eingestiegen, Jahrzehnte gearbeitet, Verantwortung getragen – und nun plötzlich allein mit sich selbst.

    48 Jahre hat er gearbeitet, mit fünfzehn begonnen, mit 65 in Rente gegangen. Sein berufliches Leben war geprägt von Disziplin, Verantwortung und Erfolg – aber auch von Fremdbestimmung. Fast fünf Jahrzehnte lang wurde sein Alltag von äußeren Anforderungen gelenkt: von den Bedürfnissen der Firma, den Erwartungen seiner Vorgesetzten, den Pflichten gegenüber seiner Familie. Entscheidungen traf er oft nicht aus freien Stücken, sondern im Dienst einer Rolle. Der Mensch hinter der Funktion trat dabei immer weiter zurück.

    Er war Vorgesetzter von vierzig Mitarbeitern, definierte sich über Leistung, Klarheit, Durchsetzungsfähigkeit. Doch mit der Annäherung an das Rentenalter wurde er zunehmend ausgegrenzt. Fortbildungen? Nicht mehr nötig. Projekte? Lieber an Jüngere übertragen. Anerkennung? Nur noch in Form von Neid auf den bevorstehenden Ruhestand. Der Mensch wurde bereits vor dem offiziellen Abschied aus dem System verabschiedet – leise, aber spürbar. Fremdbestimmt – bis zum letzten Arbeitstag.

    Sein Alltag war eine „geistige Monokultur“. Interessant, ja – aber eng. Die Anpassung an das Berufsleben bedeutete den Verlust von jugendlicher Neugier und Phantasie. Mit dem Eintritt in die Rente keimt die Sehnsucht nach Selbstbestimmung auf – doch der Preis ist hoch: Orientierungslosigkeit, ein Vakuum an Bedeutung und Selbstwert. Die Frage, „Wofür bin ich jetzt noch da?“, trifft mit voller Wucht. Denn was bleibt übrig, wenn die Struktur von außen wegfällt?

    Er lebt mit seiner Frau, seine Tochter ist längst ausgezogen, führt ihr eigenes Leben. Die Familie ist da – aber auf Abstand. Besuche zu Festtagen ersetzen keine tägliche Nähe. Die Erkenntnis ist bitter: Liebe kann bestehen bleiben, aber sie verändert sich, wenn Rollenbilder wie „Ernährer“ oder „Beschützer“ wegfallen. Was bleibt, wenn man nichts mehr geben kann, was in der bisherigen Welt als wertvoll galt?

    Er versucht, den Anschluss zu halten, liest Fachliteratur, will nicht loslassen. Doch Wissen ist vergänglich, wenn es nicht gebraucht wird. Der technische Fortschritt verläuft gnadenlos schnell – und der einstige Experte wird zum Außenstehenden. Der Besuch am alten Arbeitsplatz verdeutlicht die Entfremdung. Die Vergangenheit lässt sich nicht konservieren, wenn keine neue Gegenwart mehr entsteht.

    Der Weg heraus aus dem fremdbestimmten Leben führt nicht automatisch in die Freiheit – sondern zunächst in eine Leere. Nach Jahrzehnten der Funktion muss er mühsam wieder lernen, zu fühlen, zu wünschen, zu gestalten – nicht im Dienste anderer, sondern seiner selbst. Das verlangt Mut. Sein Selbstwert, einst genährt durch äußere Anerkennung, muss nun aus innerer Überzeugung kommen.

    „Fremdbestimmt“ ist deshalb nicht nur eine persönliche Erzählung. Es ist ein Spiegelbild unserer Gesellschaft, die den Wert eines Menschen oft an seiner Produktivität misst. Es ist ein stiller Appell an uns alle: Der Ruhestand ist nicht das Ende, sondern eine Einladung zur Neudefinition. Doch dafür braucht es mehr als Rente – es braucht Resonanz, Aufgabe, Sinn. Und vor allem: die Rückkehr zur Selbstbestimmung.

    Ein Essay von Michael Deschamps

    realo antwortete vor 7 Monaten 6 Mitglieder · 13 Antworten
  • 13 Antworten
  • realo

    Mitglied
    22. Mai 2025 um 11:15

    Es ist gut so einen Umstand in schriftlicher Form zum Ausdruck zu bringen, wie es oft hilft, wenn es persönliche Konflikte gibt, sie versuchen literarisch zu verarbeiten. Gerade biografische Texte helfen sehr, sich der eigenen Verhältnisse bewusst zu werden, oft noch viel besser als das Gespräch. Große Bereiche der Literatur basieren genau darauf und der Roman entstand, um biografische Themen zu verarbeiten. Habe eine Autobiografie zu schreiben begonnen, für einen Roman reicht mir die Geduld im stillen Kämmerlein zu schreiben nicht, ich gehe liebe raus und erlebe dort die Verarbeitung. Aber das Schreiben von kleinen Geschichten kann den seelischen Empfindungen ungemein bei der Verarbeitung helfen. Der Umbruch von Berufstätigkeit zur Rente kann ein Konflikt sein und ist ohne Frage ein wichtiger Inhalt für viele Menschen. Als Nächstes gehen die Babyboomer in Rente, das sind viele.

  • happyday

    Mitglied
    21. Mai 2025 um 19:05

    Ganz bestimmt bist du hier richtig mit deinem Beitrag, @Berserker

    So viele Mitglieder sind es nicht, die hier ab und zu schreiben und von sich und ihrem Er-Leben erzählen.

    Und JA, das Thema ist wichtig.

  • Berserker

    Mitglied
    21. Mai 2025 um 16:23

    Der Text ist von mir – und er ist in Teilen auch autobiografisch. Vielleicht gehört er gar nicht so richtig hierher, weil viele von euch diesen Umbruch schon hinter sich haben und gut damit umgehen.
    Trotzdem hatte ich das Bedürfnis, etwas aufzuschreiben. Diese Zeit der Veränderung hat mich damals sehr beschäftigt, und ich wollte ihr Raum geben.
    Zur Beruhigung: Ich habe die Umstellung geschafft – und ehrlich gesagt, ich wollte danach gar nicht mehr zurück.
    Trotz allem finde ich das Thema immer noch wichtig. Denn auch wenn man es selbst hinter sich hat, gibt es so viele Menschen, die gerade mittendrin stecken.

  • realo

    Mitglied
    21. Mai 2025 um 14:08

    Gerade beim Schreiben, beim schriftlichen Ausdruck, geht es nicht nur um die Form, sondern vor allem um den Inhalt, was will ich dem Leser mitteilen? Da gibt es hier einen Anfangstext, bei dem es darum geht, wie schwer es sein kann, wenn ein engagierter Berufstätiger in leitender Position in den Ruhestand kommt und alle diese gegebenen Strukturen wegfallen. Das kann in der Tat, wie man immer wieder mitbekommt, zu einem persönlichen Problem werden. Dieser Aspekt lässt sich literarisch aus eigener Erfahrung aufarbeiten. Wer schon länger diesen Ruhestand erlebt hat, sicherlich persönliche Erkenntnisse wie mit dieser Situation umzugehen ist. Was mich noch stutzig macht ist, ob diesen Eingangstext der User selber geschrieben hat, oder ist es ein Zitat von dem Autor der unterzeichnet hat?

  • happyday

    Mitglied
    20. Mai 2025 um 12:23

    12:09 – …„die härteste vorm“

    Diese Gruppe ist für Schreibfreunde gedacht, wie der Name sagt. Es wäre wünschenswert, wenn hier auch , wie bisher üblich, die Form wieder gewahrt wird. –

    Um über Differenzen zu diskutieren gibt es genügend andere Foren. – Auch wenn ich jetzt als Spielverderber gelten sollte, der Spaß am Schreiben ist hier gefragt.

    PS.: Zum Thema Löschen: Während ich noch schreibe, löscht der User den Anfang seines Beitrags und mein Kommentar steht nun ziemlich dumm da. DOCH, ich lösche nicht…

    • Diese Antwort wurde in vor 7 Monaten um  happyday geändert.
    • Diese Antwort wurde in vor 7 Monaten um  happyday geändert.
  • realo

    Mitglied
    20. Mai 2025 um 12:09

    Sollte man nicht zu seiner Aussage stehen, auch wenn sie missverstanden werden sollte.

    Es geht doch um die eigene Haltung, die zum Ausdruck kommt, oder wird nur geschrieben, was den Anderen recht ist und gefällt? Löschen ist die härteste vorm von Selbstignoranz.

  • seestern47

    Mitglied
    19. Mai 2025 um 15:04

    Schade, @Ricarda01, dass Du Deine klugen und hintersinnigen Fragen und Gedanken an das Mitglied gelöscht hast. Und das meine ich nicht ironisch. Wirklich schade!

    LG

    seestern47

  • GSaremba61

    Mitglied
    19. Mai 2025 um 14:53

    @ricarda01 14:31h DAS, liebe Ricarda, hättest Du auch ohne Löschung klarstellen können.

    Davon abgesehen, mein Gedanke zu dem gelöschten Beitrag – wenn ich bedenke was der User schon alles gemacht hat…. alles halb … nichts ganz…. und daher ist eine Einstellung, wie von Dir angedacht, fast unmöglich…denke ich.

    GeSa

  • Ricarda01

    Mitglied
    19. Mai 2025 um 14:37

    @seestern47

    Beitrag von 14:28

    Hallo, Seestern – ich habe meinen Beitrag gelöscht, da er offensichtlich völlig falsch verstanden wurde! Denn er war keineswegs ironisch gemeint, sondern völlig ernst und seriös.

    Ricarda01Slight Frown

  • seestern47

    Mitglied
    19. Mai 2025 um 14:28

    Herrlich @Ricarda01

    Deine Fragen sind ja fast investigativ! Ich wusste gar nicht, dass Du heimlich fürs Ministerium für Ironie arbeitest. WinkSmiley

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