Kapitalismus und Religion

»Der Kapitalismus dient essentiell der Befriedigung derselben Sorgen, Qualen, Unruhen, auf die ehemals die sogenannten Religionen Antwort gaben.«

Dieser Satz entstammt einem Fragment des Kulturkritikers Walter Benjamin aus dem Jahr 1921. Benjamin war nicht der Erste, der den Kapitalismus als moderne Religion oder Ersatzreligion bezeichnete. Wenn Religionen mit Askese und Verzicht zugunsten höherer Ziele zu tun haben, scheint der Kapitalismus das Gegenteil zu sein: Er predigt Konsum und Bedürfnisbefriedigung, seine Kritiker mahnen Konsumverzicht und Enthaltsamkeit an.

Der Soziologe Georg Simmel begriff den Kapitalismus als System, in dem Gott durch Geldwirtschaft ersetzt wurde; Geld ist nicht mehr Mittel, sondern Endzweck, an dessen Allmacht ebenso geglaubt wird wie früher an die Allmacht Gottes.

Sein Kollege Max Weber untersuchte in seiner berühmten Studie den Zusammenhang von protestantischer Ethik und dem Geist des Kapitalismus. Er sieht dessen Stärke darin, dass es ihm gelang, die religiöse Askese zu einer »innerweltlichen Askese« der Arbeitsamkeit und Leistungssteigerung umzuformen. Dies entspricht der calvinistischen Lehre vom materiellen Erfolg in der Welt als Zeichen göttlicher Gnadenwahl.

Auch das heutige Prinzip der Selbstoptimierung lässt sich als innerweltliche Askese deuten: Man verzichtet auf hedonistische Genüsse zugunsten von Selbstkasteiung und Selbstausbeutung.

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Kommentare

    1. Es ist halt Wahlkampf! Ich bezweifle allerdings, dass ein Seniorenforum der richtige Ort für Propaganda der Linken ist. Dazu sind die Erfahrungen vom real existierenden Sozialismus zu präsent und der Kapitalismus zu verlockend. 😉

      1. Mit Verlaub, @Heigi , eine kritische Auseinandersetzung mit Aspekten des kapitalistischen Systems ist doch keine Propaganda für die Linken. Sich mit was-auch-immer kritisch auseinanderzusetzen ist doch ein wichtiger Prozess dabei sie eigene Position zu finden. Oder möchtest du nur von Ja-Sagern umgeben sein, die über nichts laut nachdenken, weil sie sonst sofort in eine Schublade gepackt werden?

        1. @Yossarian: Natürlich denke ich auch nach und habe mich ausführlich mit dem Sozialismus/Kommunismus auseinander gesetzt. Und vom Kapitalismus bin ich ja zeitlebens umgeben, hatte auch lange Zeit, mich mit ihm - kritisch - auseinander zu setzen. Sei nicht so streng mit meinem kleinen Beitrag und meiner unbedeutenden Meinung, Yossarian! 🙂

          1. @Yossarian: Leider fehlt das Wort "Antworten" unter deinem letzten an mich gerichteten Beitrag (?), deshalb hier als Nachtrag: Danke!

  1. Ein spannender Gedanke, wie der Kapitalismus alte religiöse Muster aufgreift und umkehrt. Statt Askese jetzt Konsum – oder paradoxerweise Selbstoptimierung als moderne Form der Kasteiung. Irgendwie bleibt der Mensch immer auf der Suche nach einem höheren ‚Sinn‘, egal ob göttlich oder wirtschaftlich, oder?

    1. Ich habe mich erschrocken! Mich als Sozialismus-Fan hinzustellen oder mir Wahlkampf zu unterstellen, kam unerwartet. Ich vermeide bewusst die Foren für Philosophie und Glauben, da dort die Beiträge öfters ausarten.

      Meine Hoffnung war, dass irgend jemand den Gedanken von Max Weber aufgreift, der einen Zusammenhang gesehen hat zwischen westlichem Kapitalismus und der calvinistischen Gnadenlehre. Meine vage Vermutung ist, dass er dies aus dem Römerbrief hergeleitet hat.

      Ich bedanke mich für Deine sachliche Antwort.
      Gruß/Florian.

      1. Ich habe lediglich danach gefragt, weil Max Weber sich sehr häufig auf den Sozialismus als positive Politik bezieht.
        In seinem Buch „Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus: Vollständige Ausgabe“ findest Du die Quellenverweise: Max Weber: Der Sozialismus. (1918). – In: Max Weber Schriften 1894–1922. Ausgewählt und herausgegeben von Dirk Kaesler. Stuttgart 2002, S. 453. (= Kröners Taschenausgabe Bd. 233, ab jetzt abgekürzt: KTA 233)

        Und: auf Bernsteins Essay in im Buch «Geschichte des Sozialismus»

        Der Sozialismus als Ideologie: In seinem Werk „Der Sozialismus“ von 1918 analysierte Weber die verschiedenen Strömungen des Sozialismus und deren Auswirkungen auf die Gesellschaft. Er betrachtete den Sozialismus als eine Ideologie, die überwiegend positive Aspekte hat.

        1. Die calvinistischen Lehre vom materiellen Erfolg in der Welt als Zeichen göttlicher Gnadenwahl ist vermutlich von Röm 11,5 hergeleitet. Inzwischen habe ich im Internet gestöbert, bei Wikipedia wurde beine Vermutung bestätigt. Wenn es nützt, dann ist es ok.
          Gruß/Florian.

          1. Danke für deine Rückmeldung, @FlorianS! Allerdings passt das m.E. nicht so sehr zum Calvinismus, so wie er bei Max Weber eingeordnet wird. Der Calvinismus sagt ja so in etwa: Gottes Gesetz wird erfüllt, indem die Gläubigen willig ihre tägliche Arbeit in der Welt verrichten, und Gewinn ist dabei nichts Unanständiges.
            Nun kommt aber in Röm 11,5 eine Erklärung hinterher, die Luther bestimmt gefallen hat, aber bei Calvin kaum ins Konzept passt:
            (5) So gibt es auch in der Gegenwart durch Gottes gnädige Auswahl noch einen Rest (aus Israel): (6) durch Gnade, nicht mehr durch Leistungen! Denn sonst wäre die Gnade nicht mehr Gnade.

  2. Hallo allesamt,
    prinzipiell ist die Frage durchaus interessant, wie Religion und Kapitalismus sich gegenseitig beeinflussen. Florian, du hast relevante deutschsprachige Autoren genannt, die das Thema bearbeitet haben. Ich hoffte früher mal, in der Rente so viel Zeit, Interesse und Verständnis aufzubringen, dass ich zumindest einen Teil von Max Webers "protestantischer Ethik" lesen würde. Aber ehrlich gesagt ist das Werk sehr dick, sehr anspruchsvoll und ich schaffe im Jahr keine so anspruchsvolle Lektüre: das "echte" Leben fordert und interessiert mich dann doch mehr.
    Dass Weber vor über 100 Jahren einen *humanen* Sozialismus gefordert hat, scheint mir vollkommen logisch. Es ging ihm um die Ethik in der Gesellschaft; also ist es normal, dass er ein Ende der Ausbeutung der einen durch die anderen befürwortete. Die fortschrittlichen Kräfte seiner Zeit haben damals ja auch viele Instrumente geschaffen, die den Kapitalismus erst erträglich machen (Sozialversicherungen, Gewerkschaften, Wahlrecht usw.). Dass es danach keinen demokratisch kontrollierten, humanen Sozialismus gegeben hat, scheint mir weniger am Sozialismus selbst zu liegen als an der mangelnden Gewaltenaufteilung in einem Ein-Parteien-System. Aber ich will jetzt nicht in wilde Spekulationen abdriften, was hätte sein können, wenn...!
    Zwei Dinge möchte ich noch beisteuern:
    Zum ersten sage ich bewusst, dass Religion und Kapitalismus sich gegenseitig beeinflussen. Das heißt eben nicht, dass sie auf demselben Feld wirken. Wo es der einen um Transzendenz geht, schafft der andere Raum für materielle Bereicherung. Kein Wunder, wenn der Kapitalismus das Bedürfnis nach Transzendenz nicht abzudecken vermag. Er produziert auch keine wirkliche Ethik, sondern einen Ersatz dafür in Form von ziemlich egoistischen Rechtfertigungen der Ellbogenmentalität. Mir kommt es vor, als gäbe der Kapitalismus sich allenfalls dann mit Ethik ab, wenn er zu scharf angegriffen wird.
    Zweiter Einwurf: Florian, deine Autoren sind inzwischen ziemlich alt geworden, noch älter als wir! Es gibt zum Thema auch interessante neue Schriften. Ich denke da an Hartmut Rosa, Demokratie braucht Religion. https://www.evrefblog.ch/demokratie-braucht-religion/ Vielleicht bewegt mich diese Diskussion ja endlich dazu, das Büchlein zu kaufen und zu lesen!
    Einen schönen Tag euch allen - und: Seid klug wie die Schlangen und ohne Falsch wie die Tauben!

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