Die Ewigkeit

     Vor einiger Zeit fiel mir in der Stadtbücherei Benrath ein Roman von Håkan Nesser mit dem Titel „Die Fliege und die Ewigkeit“ in die Hände. Zu Hause las ich dann den Roman, immer abends als Einschlaflektüre. Mein philosophisches Verständnis reichte jedoch bei Weitem nicht aus, um den Zusammenhang zwischen der Fliege und der Ewigkeit zu verstehen.

Eines Morgens jedoch guckte ich noch etwas verknittert, also noch nicht gesellschaftsfähig, auf die Wand, an der sich ein Sammelsurium von Bildern befindet, das wir die Ahnengalerie nennen. Etliche der Fotos sind uralt und zeigen Bilder längs verstorbenen Vorfahren. Zwei der Bilder davon hingen bereits in der Wohnung meiner Großeltern, die damals in einem Dorf namens Donrath wohnten; und mich haben als Kind die beiden Bilder immer wieder stark beeindruckt. Sie begleiten sie mich also schon ein Leben lang. Auffallend ist davon ist das Foto, das ein Paar im Porträt darstellt. Dargestellt sind die Eltern meines Großvaters mütterlicherseits, also meine Urgroßeltern. Das Alter der beiden ist auf dem Bild unbestimmbar, so zwischen vierzig und fünfzig Jahren – vielleicht. Ich weiß zwar von anderen alten Bildern, dass sehr alte Fotos oft datiert sind, aber dieses Bild befindet sich im verklebten Originalrahmen, den ich nicht beschädigen möchte und so habe absolut keine Vorstellung davon, wann dieses Foto entstanden sein könnte. Was mich immer wieder überrascht, wenn ich das Bild betrachte – die Ähnlichkeit zwischen der Frau auf dem Bild mit dem meiner Mutter, als diese so um die sechzig Jahre alt war, ist frappierend. Der Rahmen dieses Bildes brachte mich dann darauf, doch einmal über die Ewigkeit zu philosophieren.

Was ist schon ewig? Wir Menschen haben keine Vorstellung davon, da unsere Lebensspanne zu kurz ist, um die Bedeutung des Wortes zu ergründen. Was also könnte an einer Fliege ewig sein? Eigentlich nichts, nur etwas am Bilderrahmen beweist Ewigkeit, zumindest aus Fliegensicht. Es ist die Fliegenkacke, die aus Sicht eines Geschöpfes, das nicht einmal einen Sommer lang lebt, Ewigkeiten auf einem Bilderrahmen überdauert hat.

Damals nach dem Krieg erschien uns Kindern Donrath als eine ferne Welt jenseits der Zeit. Die Besuche bei Oma und Opa führten uns in eine fremde Welt. Das verbotene Spiel in den Ruinen war in Düsseldorf unser Alltag. In Donrath tauchten wir in eine Welt ein, die für uns so etwas wie der Ort des glückseligen Paradieses war. Einzige sichtbare Spur des Krieges war dort ein Granatsplitter in der Seitenwand eines Kleiderschranks. Opa erzählte, in den letzten Kriegstagen sei das Dorf unter Beschuss geraten und der Splitter stamme von einem Querschläger. Was immer Querschläger auch zu bedeuten hatte, wir hatten keine Vorstellung davon, Krieg hatte für unser Verständnis in den Ruinen der Großstadt stattgefunden.

Es gab im Ort etliche Kleinbauern, die Kühe und Schweine hielten. Aber auch alle Arten von Geflügel, sowie Kaninchen wurden von den Dorfbewohnern gehalten und zu jedem Haushalt gehörte ein Gemüsegarten. So funktionierte eigentlich das ganze Dorf über Selbstversorgung. Meist spielten wir im Sommer unter der mächtigen Linde auf dem Hof hinter dem Wohnhaus. Bei warmem Sommerwetter badeten wir in der Agger, die direkt hinter dem Hof vorbeifloss, oder wir liefen barfuß über Wiesen und Felder; fanden es zur Bestürzung der Erwachsenen besonders ergötzend die bloßen Füße in frischen Kuhfladen zu versenken. Noch aufregender war das verbotene Spiel im Bereich der Kleinbahn, die damals für das Dorf die Verbindung zur großen Welt darstellte. Das war aber nicht wirklich gefährlich, da nur morgens und abends Züge fuhren. Noch heute erinnere ich mich an das Geräusch, das die an der Lok angebrachten Bimmel verursachte – eine echte Bimmelbahn also.

Außerdem empfanden wir es als angenehm, dass wir uns nicht so oft waschen mussten wie zu Hause – nur auf Kuhdung an den Füßen, da reagierten Oma und Opa ungehalten. Gab es doch im Dorf kein fließendes Wasser aus dem Hahn. Alles Wasser musste mühsam an einer oft kaputten Pumpe in Eimer gepumpt werden, die dann über die Treppen zur Wohnung getragen wurden. Ich glaube die Oma war ganz froh, wenn das Wetter warm genug war, um uns zum Baden in die Agger zu schicken.

Etwas in Donrath empfanden aber selbst wir Kinder als ausgesprochen lästig und unangenehm. Das war die Fliegenplage, die jeden Sommer mit fürchterlicher Gewalt über das Dorf hereinbrach. Das ist nicht verwunderlich, gab es doch reichlich Misthaufen und Plumpsklos im Dorf. Die Fliegen waren überall und sie zu bekämpfen war völlig sinnlos. Die hilflosen Versuche mit von der Decke hängenden Leimstreifen der Plage im Bereich der Küchen Herr zu werden, waren bemitleidenswert und völlig wirkungslos. So summten von Sonnenaufgang bis abends, wenn die Lichter gelöscht wurden, Heerscharen von Fliegen immer Rund um die Küchenlampe. Nur darauf wartend, dass irgendetwas Essbares offen im Raum herumstand.

Die Hinterlassenschaften dieser Armeen waren nicht zu übersehen. Die dunklen Punkte der Fliegenkacke waren praktisch überall und der sinnlose Kampf gegen die Fliegen und ihre Kacke erschlaffte umso mehr, je länger der Sommer andauerte. Nach der Fliegensaison fehlte dann die Mittel, um die Kacke zu entfernen und so vermehrten sich die Ablagerungen von Jahr zu Jahr.

Als nun besagtes Bild vor über dreißig Jahren in unseren Besitz geriet und wir beschlossen die Ahnengalerie zu gründen, fiel mir als Erstes die ungeheure Anzahl kleiner dunkler Punkte auf Rahmen und Glasscheibe auf. Ich wusste zwar um was für Punkte es sich handelt, aber wie man im Lauf der Jahrzehnte getrocknete Fliegenkacke entfernen könnte, war mir völlig ungekannt. Auf der Glasscheibe es kein Problem die Kacke zu entfernen, aber ich mühe mich jetzt schon all die langen Jahre ab, die Kacke vom Rahmen zu wischen. An den glatten Teilen des Rahmens ist mir das in mit der Zeit auch recht gut gelungen, nur noch der eine oder andere Punkt hat meine Attacken überdauert. Aber der schön verschnörkelte Teil des Rahmens, der aus stilisierten Eichenblättern geformt ist, ist nicht zu behandeln, ohne ihn zu zerstören.

Seit ich das Bild das erste Mal bewusst wahrgenommen habe, sind über siebzig Jahre ins Land gegangen. Da die durchschnittliche Lebensdauer einer Fliege wohl so bei vierundzwanzig Tagen liegt, ergibt das an die fünf Generationen Fliegen im Jahr. Somit haben seitdem mindestens dreihundertfünfzig Generationen Fliegen die Erde bevölkert. Das hat aus Fliegensicht gewiss etwas mit Ewigkeit zu tun. Fast alle Menschen, die damals nach dem Krieg mit diesem Bild gelebt haben, sind tot. Nur eine Cousine, ein Cousin und haben bis heute überlebt. So ist auch noch der Beweis erbracht, dass Fliegenkacke leicht ein Menschenleben überdauern kann. Stellen wir uns einfach vor, wir würden die Hinterlassenschaften eines Vorfahren finden, der vor dreihundertfünfzig Generationen gelebt hat. Da landen wir leicht in der Bronzezeit. Wenn das nichts mit Ewigkeit zu tun hat, dann weiß ich wirklich nicht, was Ewigkeit ist.

Das Original der Geschichte findet Ihr hier

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