Der Weg in die Weite

Der Weg in die Weite (Barbara59)

Auf dem Weg zwischen den Wiesen bilden Radspuren, in denen Wasser steht, tiefe Rillen. Ich gehe diesen Weg, der sich am Horizont zu verlieren scheint. Vor mir taucht ein großes, halbgeöffnetes Tor auf, das mich zum Weitergehen einlädt. Das Gras wird höher und trockener. Es knistert leise, als es meine Beine streift.
Ich lasse die Wiesen hinter mir. Ein dichter Birkenwald, der seine dünnen Stämme wie rachitische Finger in die Luft streckt, wächst aus dem moorigen Untergrund. Trockene Heidepflanzen und Blaubeersträucher bedecken den Boden. Ab und zu huschen Schatten über die grau-weißen Stämme, wenn der Wind mit den Wolkenbergen spielt. Mühelos schiebt er sie vor der Sonne hin und her. Doch sie lässt sich nicht beirren und schickt ihre Strahlen durch die kleinsten Lücken, um den kühlen Atem des Windes zu erwärmen. Es ist die Zeit, in der sich Sommer und Herbst um ihr Vorrecht streiten.
Etwas abseits des Weges stehen zwei dicke Eichenbäume, und lassen ihre grünen Blätter rauschen. Die Radspuren führen zwischen den Bäumen hindurch, und ich folge ihnen, bis ich eine Lichtung erreiche. Auf ihr stehen zwei Apfelbäume mit noch grünen Früchten. Gelbe Blumen leuchten durch das Brombeergestrüpp wie kleine Sonnen. Sie lehnen sich an eine niedrige Mauer aus roten Ziegelsteinen. Daneben steht auf einem dicken Pfosten ein großer verrosteter Schraubstock. Wieder huschen Sonnenstrahlen an mir vorbei, und das Rot der Ziegelsteine leuchtet hell auf. Hier an diesem Platz scheint die Zeit verloren gegangen zu sein.

Ich setze mich auf ein Grasbüschel, das so dick und weich wie ein Kissen ist. Jetzt scheint die Sonne hell und warm auf mich, und der Wind wispert leise mit den Gräsern. Hier ist ein ruhiger Platz mit viel Geschichte, von der ich nichts weiß. Ich kann sie nur erahnen.
Erschreckt schaue ich um mich, als es neben mir raschelt. Wieder raschelt es. Da sehe ich auf der Mauer eine kleine braune Schlange, die mich mit ihren kleinen dunklen Augen anblinzelt. Ob sie kurzsichtig ist?Ich mag kaum atmen, und ziehe meine Beine fest an mich.
"Hast du Angst vor mir," zischelt sie leise lachend.
"Ich mag keine Schlangen, und schon gar keine, die sprechen, lachen, und blinzeln können." Über den Körper des Tieres laufen kleine Wellen. Es scheint sich sehr über mich zu amüsieren.
"Ich bin eine Blindschleiche, also auch keine Schlange. Sprechen wie du kann ich nicht, aber ich übertrage dir meine Gedanken, und mit dem Lachen ist das so eine Sache. Ich amüsiere mich gerne, und wenn ich lachen muss, kommt mein ganzer Körper in starke Bewegungen."
Sie ringelt sich ein wenig zusammen und liegt nun ganz still."Ich wollte mich ein wenig sonnen, denn bald wird es kalt werden. Da hörte ich dich, also einen Menschen, kommen. Warum bist du hier?"
Meine Beine schlafen ein, und ich strecke sie vorsichtig aus.
"Ich ging spazieren und sah diesen freien Platz. Aber wie konntest du mich hören? Ich denke du bist taub, außerdem war mein Gang leise auf dem weichen Untergrund."Dieses kleine Tierchen ist doch sonderbar, denke ich.Da richtet sich sie sich auf und zischt laut.
"Ich bin eine Blindschleiche, eine Echse und keine Schlange. Auch bin ich kein Tierchen, das man auf den Kopf zu klopft, wie es Menschen tun, wenn ihnen ein Tier mit Beinen gefällt."
"Nie würde ich es wagen, dich zu berühren."Sie legt sich wieder zurück.
Ich bin irritiert, und frage, ob sie meine Gedanken lesen kann.Unbeweglich schaut sie mich an, dann nickt sie leicht.Ich versuche mein Gesicht ausdruckslos erscheinen zu lassen, schaue in die Bäume, die ihre Äste nicht bewegen und versuche an nichts zu denken."Wie lange willst du das durchhalten, Mensch?"Das Lachen der Echse ist leise, steigert sich aber so sehr, dass es die Luft um mich ausfüllt, und alles in Schwingungen versetzt. Ihr Körper bebt so sehr, dass sie den Halt verliert und von der kleinen Mauer fällt. Aber immer noch kann sie sich nicht beruhigen, und ihre Fröhlichkeit ist so ansteckend, dass ich mitlachen muss."Ihr Menschen seid doch komisch," züngelt sie nach einer Weile. "Immer wollt ihr uns überlegen sein, aber das werdet ihr nie schaffen," bringt sie schwer atmend hervor.
Geschickt schlängelt sie sich wieder auf die Mauer.
"Hier habe ich einen besseren Überblick, und kann dich beobachten, denn meine Familie hat schlechte Erfahrung mit euch Menschen gemacht. Alles was euch fremd ist, und nicht in eure Vorstellung passt, vernichtet oder vertreibt ihr."Wieder blinzelt sie mich an, und rückt ein wenig näher.
"Sehe ich Angst in deinen Augen, Mensch? Weißt du nicht, wie nützlich wir für euch sind?"Wortlos schüttle ich den Kopf.
"Du meinst, dass ich dich vergiften kann, und meine Schuppen kalt und feucht sind?"
Sie zischelt drei mal ganz kurz, und kommt noch ein wenig näher. Ein kalter Schauer läuft mir über den Rücken."Bleib lieber da, wo du bist," flüstere ich.
"Gut, wenn deine Abneigung so groß ist, werde ich mich wieder auf die Mauer legen."
Mühelos schlängelt sie sich wieder an dem Mauerwerk hoch."Wie nennt man dich, Mensch?"
"Karla."
"Wie schreibt man deinen Namen, mit K oder mit C?
Eine Echse, die mich nach der Grammatik fragt. Wie soll sie schreiben oder lesen können?"Kann ich auch nicht," höre ich. "Aber hier wohnte ein Mädchen dessen Name mit K geschrieben wurde. In den Ferien besuchte sie jedes Jahr eine Carla aus der Stadt. Beide stritten oft um ihren Namen. Da sieht man, wie kleinlich die Menschen sind und manchmal auch denken. Oder denkt ihr gar nicht? Sie entzweiten sich wegen dieser beiden Buchstaben. Und wie schreibst du dich?"
"Ganz einfach mit K. Aber wie kannst du dich über das Denken und auch Nichtdenken der Menschen beschweren. Du bist doch ein Tier."
"Durch das Nichtdenken von euch Menschen sind wir fast ausgerottet worden. Ihr seid oft so unwissend," dröhnen die Worte in mein Ohr.
Ich will einfach nicht mit einer Blindschleiche streiten.
"Ich streite nicht mit dir. Es sind Erfahrungen meiner Familie."
"Hat man dir auch einen Namen gegeben," frage ich, um das Thema zu wechseln. "Natürlich, bei meiner großen Familie ist es schon nützlich. Wir werden aber nach Aussehen oder nach Lauten, die wir erzeugen, benannt."
Es folgen wieder drei kurze Zischlaute.
"Übersetzt heißt es Nanana. Ich war in der Jugend sehr ungeduldig, und wenn etwas nicht so schnell ging, wie ich es wollte, zischelte ich drei mal kurz."
"Bist du jetzt alt," frage ich.
"Etwas älter schon, aber immer noch so schnell, dass ich mich ernähren kann. Auch du bist auch nicht mehr die Jüngste, meine Liebe."
Wieder blinzelt mich die Echse an. "Sind wir beide nun geduldiger geworden, Karla?""Ich glaube nicht."
"Weißt du, oder weißt du nicht? Kannst du dich nicht präzise ausdrücken? Vielleicht, könnte, möchte und wollte, das sind Worte die ihr gerne benutzt, um euch nicht festzulegen."
Unwillig dehnt sie sich und schlägt mit ihrer Schwanzspitze auf die Steine.Ich schaue wütend auf dieses kleine Tier, das es wagt, wieder so mit mir zu sprechen. Es ist verrückt, sich mit einer Blindschleiche zu streiten, oder träume ich alles nur?"Ich bin da. Soll ich dir erzählen was hier alles geschehen ist?"
Dieses kleine Tier, eine Echse, will mir aus der Vergangenheit erzählen, obwohl ihr Leben viel kürzer ist als meins.Wieder höre ich das ungeduldige Zischeln, und es ist ganz nah. Sie hat sich zu meinen Füßen zusammengerollt. Nur den Kopf hat sie angehoben, und schaut mich mit ihren kleinen Augen durchdringend an.
"Hörst du mir zu, Karla?"
Ich nicke, und frage mich, wer mir mein Erlebnis glauben wird, wenn ich es zu Hause erzähle?"Ist das so wichtig für dich, was die Anderen denken? Doch ich merke, dass dir meine Nähe noch nicht behagt. Ich lege mich wieder auf die Steine. Sie haben Wärme gespeichert, und das ist für mich sehr angenehm."
"Dieser Mauerrest gehörte wohl zu einem Haus? Aber das war wohl lange vor unserer Zeit?"
"In jeder meiner Schuppen ist die Vergangenheit meiner Vorfahren gespeichert. Ich werde dir von dem schönen großes Haus erzählen, das zerfiel als die Menschen es verließen. Nur wir sind geblieben. Über die Trümmer legten sich die Ranken vieler Pflanzen."
"Warum gingen die Leute?"
Die Schlange, die keine ist, hebt den Kopf und schaut mich wieder an. Nicht durchdringend, eher fragend. Die Sonne lässt ihre Schuppen metallisch braun glitzern.
"Karlas Geschwister zogen in die Stadt, nur sie blieb mit ihrem Mann und dem Sohn hier. Sie liebten die Einsamkeit."Sie faucht leise drei mal, und schlängelt sich wieder in meine Richtung. Dabei lässt sie mich nicht aus den Augen."Hörst du mir überhaupt zu?"
Ich nicke nur, denn ein kalter Schauer läuft mir über den Rücken, als ich ihr direkt in die Augen schaue. Es liegt ein gefährliches Glitzern darin, oder ist es ganz einfach Heiterkeit?"Ja, ich muss lachen, wenn ich dich anschaue, und deine Ängste fühle," zischelt die kleine Natter."Soll ich dir von Karlas Mann erzählen? Noch heute erzählt man von seiner Kraft und Stärke."Ich kann nur nicken, denn mein Hals ist wie zugeschnürt."Du musst zuerst deine Angst vor mir verlieren. Lege deine Hand auf mich."Ich habe das Gefühl nicht mehr atmen zu können, als sie mir ganz nah kommt. Doch langsam strecke ich meine Hand aus. Das Herz schlägt mir bis zum Hals, als ich sie vorsichtig mit einem Finger antippe. Sie fühlt sich warm an, und ich lege meine Hand auf sie und atme tief durch.
Ich spüre ihre Haut, und auch ihr Leben in dem kleinen Körper.
"Fühle ich mich nicht gut an? Ich werde mich auf deine Beine legen, damit ich mich wärmen kann."Ich halte still, und sie legt sich lang ausgestreckt so hin, dass ihr Kopf auf meinen Knien liegt. Sie seufzt leise."Ich freue mich, dass du mir vertraust. Schließe nun deine Augen, dann wirst du auch sehen, was ich dir erzähle."Ich sitze wie versteinert und wage kaum zu atmen.
"Ach Karla," seufzt sie.
"Ich fühle deine Ängste und deine Abneigung, darum werde ich mich zurück ziehen. So kann ich nicht mit dir kommunizieren, weil sich deine Gefühle und Gedanken auf mich übertragen. Komm wieder hier her, wenn du mich akzeptierst, wie ich bin. Dann werde ich dir von den Menschen erzählen, die hier lebten."
Sie schlängelt sich geschickt durch das hohe Gras.
"Komm bald wieder zurück," höre ich leise.
Dann ist es still. Die Sonne schickt ihr rötliches Abendlicht über die Baumspitzen, als ich aufstehe und nachdenklich den Weg zurück gehe.

Eine Text von: Barbara59

Ähnliche Beiträge

Kommentare

Verstoß melden

Schließen