Seit wann bin ich alt?

  • Seit wann bin ich alt?

     Mondin antwortete vor 4 Jahren, 4 Monate 4 Teilnehmer · 4 Beiträge
  • Mondin

    Teilnehmer
    30. November 2019 um 18:57

    SEIT WANN BIN ICH ALT?

    Als ich noch keine 50 Jahre gelebt hatte, war das Wissen, dass man spätestens ab 60 zu den Alten gehört, unumstößlich.
    Mit 60 hatte ich das vergessen.

    Das Alter überfiel mich, völlig unerwartet, wenige Monate nach meinem 63. Geburtstag. Ich bemerkte, dass ich mich mit den Händen auf den Knien aufstützte, wenn ich im Garten aus der Hocke in den Stand wollte. Da fing ich an, mich zu beobachten.

    Seit wann kriegte ich eigentlich den Bus nicht mehr, wenn er schon in dem Moment zu sehen war, in dem ich die Straße betrat? Wieso waren meine Glieder so schwer, obwohl ich abgenommen hatte? Das Knacken in den Knien war doch auch nicht erst seit gestern. Wann hatte ich angefangen, Lehnstühle zu bevorzugen, statt der niedrigen Sessel, in die man sich so herrlich fläzen konnte? Wann hatte das Kokettieren mit meinen wenigen grauen Haaren aufgehört?

    Bin ich alt, seit ich es als gegeben hinnehme, dass meine Schultern nicht mehr so beweglich sind und ich mich mit meinen Schwindelanfällen abfinde?
    Fühle ich mich alt, weil ich mir Tage exzessiver Faulheit erlaube oder mir gestatte, nicht mehr auf alles neugierig zu sein?
    Begann mein Alter schon damit, dass ich anfing, Reiseziele von meiner überlangen Wunschliste zu streichen oder erst, als ich nach 16 Wandertagen eine Sehnenscheidenentzündung bekam?

    Wie empört war ich über meine Tante, als sie beim Kauf eines Mantels bemerkte, das sei der letzte, den sie brauche. Habe ich nicht beim Kauf des Autos, das ich jetzt fahre, den gleichen Gedanken gehabt?
    Wollte ich François wirklich unbedingt dieses Jahr noch sehen, weil er so viel älter ist als ich oder dachte ich auch daran, dass mir die weite Reise zu ihm nächstes Jahr schon zu beschwerlich sein könnte?
    Überall entdecke ich Hinweise, dass vieles nicht mehr selbstverständlich ist, worüber ich mir bisher keine Gedanken machte.

    Um es deutlicher zu sagen: Überall entdecke ich die untrüglichen Zeichen des Verfalls!
    Ich bin 63, weder zucker- noch herzkrank, habe normalen Blutdruck und eine Brille trug ich schon als Kind. Ich kann normalerweise ohne Beschwerden gehen. Und dennoch, die Leichtigkeit ist unwiederbringlich dahin, das Wort „normalerweise“ verdeutlicht die Einschränkung. Die kleinen Wehwehchen, die ich mit einem „Ach, das ist nichts!“ abtue, häufen sich. Etwas auszuheilen, dauert immer länger. Immer öfter gelingt es mir nur unvollständig. Immer kürzer werden die Phasen des bei-bestmöglicher-Gesundheit-sein und das Bestmögliche ist immer weniger. Und immer mehr muss ich tun, um dieses Wenige zu erhalten. Lohnt sich dieser Aufwand?

    „Das ist das Alter“, wird mir immer wieder gesagt. Lohnt sich mein Aufbäumen dagegen noch?

    „Ich fühle mich noch so jung“, von alten Menschen ausgesprochen klang mir früher abgedroschen, banal und zum Kotzen unglaubwürdig.
    Heute denke ich ebenso. Aber es ist nur eine Seite dessen, was ich empfinde. Die andere Seite ist das Gefangen- und Gefesseltsein in einen unübersehbar alternden Körper.

    Ich erinnere mich an Inge aus deren altem, von Medikamenten aufgedunsenem Leib die Leichtigkeit ihrer Jugend hervorschien, als sie wieder zu tanzen wagte. Genau das wünsche ich mir sehnlichst: dass mein Jungsein nicht verloren gegangen ist, noch spürbar ist trotz des bereits gelebten Lebens und der Falten im Gesicht.

    Die Zeit zurück drehen, wieder jung sein möchte ich nicht. Noch einmal alles vor mir haben, was hinter mir liegt, unwissend sein, voller Unruhe, unfähig mit meinen Sehnsüchten umzugehen, ohne mein Wissen von heute. Nein, das möchte ich definitiv nicht!

    Ich genieße meine Gelassenheit den Ereignissen gegenüber, meine Freiheit gegenüber der Meinung anderer, mein Losgelöstsein von Konventionen und Zwängen, meine mühselig erworbene Fähigkeit, mich und das Leben nicht so ernst zu nehmen.

    Es schert mich nicht, ob Frau Menkel regelmäßig putzt, der Sohn von Peter sich eine Glatze scheren ließ und Rosannas Tochter schlechten Umgang pflegt. Ich sah zu viele „missratene Kinder“ zu Erwachsenen werden, die ihr Leben klüger führen als ich es getan habe, sah zu viele ordentliche, gehorsame Kinder verzweifeln und scheitern.

  • happyday

    Teilnehmer
    1. Dezember 2019 um 12:48

    Was für eine zutreffende und auch auf den zweiten Blick vergnügliche Beschreibung, liebe Mondin.
    Es hat mir große Freude gemacht, deine Gedanken über die Fragestellung "wann bin ich alt" zu lesen. In so mancher Beschrei habe ich auch mich wieder erkannt.
    Auch daran erinnere ich mich gut, an meine drei Wünsche, bevor ich sterbe, zu tiefster DDR-Zeit. An erster Stelle stand, meine Lieblingsstadt Hamburg wieder sehen, einmal auf Helgoland sein und die drei Filme von James Dean sehen zu können.
    Das war dann bereits zwei Jahre nach Öffnung der Mauer erlebt… 😉
    Hamburg, ist die Ferienstadt meiner Kindheit mit meinem Vater aus Hamburg.
    Nach Helgoland hatten meine Eltern ihre Hochzeitsreise mit Fahrrädern unternommen. Und ich hatte keine Ahnung, was "Ausbooten" ist.
    James Dean-Fan wurde ich durch die Bravos, die mein Vater von seinen Reisen nach Hamburg geschmuggelt hat.

    Mit Wünschen bin ich sehr vorsichtig geworden. Besonders nach dem für mich gesundheitlich ver-rücktem Jahr 2019.
    Nun genieße ich es, Stück für Stück wieder fit zu werden.

  • sveamona

    Teilnehmer
    3. Dezember 2019 um 10:59

    Liebe Mondin!
    Wer so schreibt wie Du ist nicht alt!!!
    Überhaupt,die Ansicht wer oder was alt ist scheint
    mir sehr vielfältig zu sein.
    Ich bin gerade nach 9 Wochen Krankenhaus wegen schwerer Blutvergiftung entlassen worden. Zum Abschied sagte Onkel Dr. …freuen sie sich, sie sind neu geboren.
    Auf dem Heimweg mit meinem Rolator habe ich darüber nachgedacht…also….neu????? Ehrlich das wüsste ich aber, die Erinnerung an "beweglichere" Zeiten ist noch sehr lebendig.

    Grüße Dich und glaub mir, Du musst noch!
    sveamona

  • Mondin

    Teilnehmer
    3. Dezember 2019 um 19:56

    Swea, wie schön, mal wieder von Dir zu lesen, auch wenn das Gelesene nicht das Beste ist. Nun ja, neugeboren stellt man sich anders vor, aber immerhin Du lebst noch oder wieder. Ich hoffe, es geht bei Dir auch weiterhin aufwärts.
    Deine wunderbaren Geschichten habe ich schon vermisst!

    Mondin

Beiträge 1 - 4 von 4

Sie müssen angemeldet sein, um zu antworten.

Hauptbeitrag
0 von 0 Beiträge June 2018
Jetzt

Verstoß melden

Schließen