noch eine Episode aus der Kindheit

  • noch eine Episode aus der Kindheit

     Carl75 antwortete vor 1 Jahr, 9 Monate 4 Teilnehmer · 7 Beiträge
  • Unbekannt

    Teilnehmer
    19. September 2021 um 11:45

    3 Wochen Schwarzwald

    Meine Eltern konnten dieses Jahr nicht mit mir in Urlaub fahren und schlugen vor, noch mal einen Versuch betreffend Kinderheim zu machen. Das Ziel meiner Reise der Schwarzwald. Nur für drei Wochen. Warum nicht, den Schwarzwald mochte ich. Dort angekommen wurden wir auf die Zimmer verteilt. Die anderen Mädchen, mit denen ich das Zimmer teilte, hießen Rose, Barbara und Julia, und wir verstanden uns sofort. Wir hatten unseren Spaß.

    Das Essen war allerdings eine Katastrophe. Jeden Morgen gab es angebrannte Haferflockensuppe, köstlich. Die Marmeladenbrote waren noch das Beste. Der so genannte Tee, sah aus wie Spülwasser, und schmeckte mit viel gutem Willen etwas nach Frucht oder Pfefferminz. Das Mittagessen war wenig schmackhaft. Dreimal die Woche gab es Nudeln mit Tomatensoße. Die Nudeln waren zu einem Kloß zusammen gekocht und in der Soße schwammen erbsengroße Mehlklumpen, einfach lecker! Der dazu gehörige grüne Salat hatte wenige Tröpfchen Öl abbekommen, von Gewürzen ganz zu schweigen. Da man uns aber stundenlang durch den Schwarzwald scheuchte, hatten wir Hunger und aßen alles. Man musste schnell sein, die Portionen waren klein und Nachschlag gab es nicht.

    Abends gab es Brote mit Margarine, auch sehr knapp bemessen. Hier würde keiner dick werden. Wir nahmen es mit Humor. Die aushängende Speisekarte hörte sich immer gut an. Hähnchen mit Rotkohl und Kartoffelpüree. Wir freuten uns. Ich weiß zwar nicht, wie man Rotkohl grau bekommt, aber die haben das geschafft. Das Hähnchen war ein Gummiadler mit 1000 Flugstunden und das Püree hätte man prima als Kleister verwenden können. Da wir nach Hause telefonieren durften, hatten wir abgemacht, unsere Post zu verschlüsseln. Alle Briefe und Karten durchliefen eine Kontrolle, bevor sie verschickt wurden. Hier ist es ganz toll, hieß genau das Gegenteil. Das Essen schmeckt super lecker, hieß ungenießbar.

    Unsere Gruppenleiterin war schwer in Ordnung. Wir durften sogar Sonntag unsere Bonanza-Serie auf ihrem Zimmer gucken. Allerdings mussten wir um acht ins Bett und die Aufsicht hatte eine Dame, die uns das Leben schwer machte. Sie hieß Dirwee und hielt uns jeden Abend im norddeutschen Dialekt folgenden Vortrag: „Unverschäääämt, die grooßen Mädchen machen sooo ei..nen Kraaaach, dass die kleinen Mädchen nicht schlaaafen können, die nehmen kei…ne Rücksicht.“ Wir kicherten und äfften sie nach. Barbara parodierte sie perfekt. Zack, wurde die Türe aufgerissen und Frau Dirwee stand in der Tür. Die Schuldige musste ihr Bettzeug mitnehmen und sich zur Strafe auf einen Stuhl auf den Flur setzen, unter ihrer Aufsicht natürlich. Rose öffnete die Türe und bekam sich nicht mehr ein. „Wisst ihr wie Barbara da sitzt?“ Sie demonstrierte es uns, indem sie sich die Bettdecke um den Bauch schlang, sich auf den Nachttisch setze und das Kissen hinter den Kopf klemmte. Wir versuchten nicht laut heraus zu platzen. Zu spät, wieder ging die Türe auf und Frau Dirwee stand im Rahmen. „Duuuu kaaannst dich glei…ch dazu setzen,“ schnarrte sie. Was Rose auch tun musste.Das Schönste für mich war der Liederkreis. Vor dem Schlafengehen wurden gemeinsam Volkslieder gesungen. Wir sangen auch ganz gerne auf unserem Zimmer. Barbara hatte ein Spottlied gedichtet und wir sangen begeistert mit.

    Strophe 1 Früher wollt ich in das Hans-Luster-Heim

    Heute kriegen mich zehn Pferde nicht mehr rein.

    Strophe 2 und das Leben wäre noch einmal so schön

    müsste ich die Dirwee nicht mehr sehn

    Reimte ich dazu. Wir haben sehr gelacht.

    So vergingen die Wochen mit Spaziergängen und Basteleien.

    Dann war Abreise. Keiner war darüber traurig. Meine Zimmergefährten wohnten alle in unterschiedlichen Stätten. Barbara zum Beispiel in Schweinfurt und die anderen auch in Süddeutschland. Alles zu weit weg um sich wiederzusehen. Schade, wir tauschten aber Adressen aus und versprachen uns zu schreiben.

    Die
    Heimleitung wurde übrigens abgelöst, sie hatten in die eigene Tasche
    gewirtschaftet.

    Die Personen und Orte sind frei erfunden.

  • Heide79

    Teilnehmer
    19. September 2021 um 13:34

    @lachegern , danke für Deine Geschichte, ich kann sie so gut nachvollziehen, weil ich als Kind Ähnliches erlebt habe. Am schlimmsten war es auf dem Heuberg. Alles war ähnlich wie bei Dir, nur dass wir täglich mit einer Nonne spazierengehen mussten, und zwar zwei und zwei in einer langen Reihe am Straßenrand. Dabei mussten wir das Heuberglied singen, ein langer Text, den wir vorher auswendig gelernt hatten. Es fing an mit “oh Heuberg du mein Heimatland”, dann weiß ich nur noch ein Stück Refrain: “so nah am Himmel wohnt man dort, ja niemals möcht ich fort”. Dies war für mich immer der pure Hohn.

    Da unser Heim katholisch geführt war, hatten strenge Schwestern die Aufsicht. Das Besondere war, es gab hier auch Jungens, die allerdings meist getrennt von uns ihr eigenes Programm hatten. Der Jungenschlafsaal war nicht weit weg von unserem. Wir waren alle elf, zwölf Jahre alt und hatten ein beginnendes Interesse an Jungen, wie die auch an uns. So schlich man sich in der Nacht mal kurz in deren Schlafsaal und die kamen bei uns vorbei. Natürlich wurde es von den Schwestern bemerkt und es gab ein riesiges Donnerwetter. Es wurde zum Skandal gemacht, gedroht, die Eltern zu benachrichtigen, obwohl nichts passiert war. Aber eine kräftige Nonne verteilte klatschende Ohrfeigen. – Das waren meine Erfahrungen mit einem Kinderheim, sie ähneln sich alle. LG Heide

  • Heide79

    Teilnehmer
    19. September 2021 um 20:55

    Liebe @lachegern, das ist ein trauriges Kapitel mit den damaligen Kinderheimen. Unsere Eltern glaubten, für uns damit was Gutes zu tun und ahnten nichts, da die meisten Kinder nicht viel erzählten. Bei uns auf dem Heuberg war ein Mädchen, das es geschafft hatte, eine unzensierte Postkarte an ihre Eltern in den Briefkasten zu werfen. Ihre Eltern kamen mit dem Auto und holten sie ab und wir beneideten sie alle. LG Heide

  • Heide79

    Teilnehmer
    19. September 2021 um 23:30

    Liebe Lachegern, das war bei Dir wirklich eine Tragödie, Du warst noch viel zu klein für so etwas. Hoffentlich haben es Deine Eltern danach verstanden. Gute Nacht LG Heide

  • rooikat

    Teilnehmer
    20. September 2021 um 9:48

    Ich war als Kind gerne verreist, die Arbeitsstellen einer Eltern hatten Betriebsferienlager und da war es immer spannend. In der 50ern, war es meist im Tanzsaal einer Dorfgastätte. Doppelstockbetten mit Strohsäcken und alle im großen Raum, eine Hälfte die Mädchen, andere die Jungs. Getrennt nur durch Behelfswand, die nicht bis zur Decke reichte und jedes Tönchen allseits zu hören war. Das war abends ein Gekicher bis zu Lachausbrüchen, wenn einer einen besonderen Ton von sich gab oder irgend etwas sehr albern rief. Die Gruppenleiter hatten keine Chance. Wir mussten lediglich im Bett bleiben, rumlaufen war strengstens untersagt, es drohte Saal kehren oder Tischdienst am folgenden Tag.

    In den Strosack konnte man eine Kuhle drücken, eine Waschsschüssel mit etwas Wasser rein und das Laken schön straff darüber ziehen. Dann wartete die gesamte Bande abends bis das arme Opfer kreischend im nassen Bett saß. War es das obere Bett, bekam der Untermann auch was ab. Aber niemand war lange sauer, es konnte jeden mal treffen. Ausgesprochenes Mobbing, wie es heute leider vorkommt, das kannten wir noch nicht. (Da hatte ich meine Erfahrungen als Flüchtlingskind zu Hause in der Schule, ist aber ein anderes Kapitel)

    Zum Thema Heim habe ich auch so meine Erinnerungen… Mit 10 Jahren sollte ich zur Kinder- und Jugendsportschule wechseln. Davor stand eine sehr gründliche ärztliche Untersuchung an. Ergebnis: Statt KJS in ein Sanatorium für herzkranke Kinder. Nachwirkend vom kurz zuvor überstandenen Scharlach stimmte etwas nicht mit den Herzen. Das Sanatorium wurde von Diakonissen regiert. Zimmer, Betten, Essen – alles war für mich himmlisch, viel besser als im kargen zuhause. Und ich lernte dort handarbeiten, basteln, vieles, was ich noch heute nutze und an Kinder weitergegeben habe.
    Aber dieses RUHEEEE halten war für mich Zappeline eine Qual. Immer nur langsam im Kurschritt, niemals rennen dürfen, ständig Liegepausen mit langsam irgendeine Suppe trinken. Ich sollte möglichst auch noch zunehmen, war klapperdürr, fühlte mich aber wohl!

    Auf langen Flur der Etage lag ein wunderbarer roter Läufer. Der reizte mich täglich, immer wieder: Tu es! Und eines Tages riss es mich – ich wirbelte Radschlagen von einem Ende des Flures bis zum anderen. Am wagrhaft dicken Ende erwartete mich eine stramme, strenge Diakonosse, mit ihrem zierlich gefälteten weißen Häubchen, ihrer gestärkten, weißen Schürze um den respektablen Leib und gefährlich leiser Stimme: Sofort in den Ruheraum!

    Das war für mich die schlimmste Strafe, Folter!!!!! (Sie hatte ja sicher Recht, aber der tolle Läufer, der wunderbar lange Flur…sowas hatte ich zu Hause in der kleinen Untermietwohnung nie, nicht mal in der Turnhalle der Schule.) Nach 6 Wochen wieder nach Hause, ich hatte ganze 100 Gramm zugenommen. Rofl

  • rooikat

    Teilnehmer
    20. September 2021 um 19:17

    Lieben Dank, @lachegern, still sitzen war noch nie mein Ding, ist es bis heute nicht, deshalb trifft es mich jetzt immer wieder, wenn der Körper gegen den Kopf plötzlich signalisiert: Stopp – bis hierher und nicht weiter.

    rooikat

  • Carl75

    Teilnehmer
    18. Juli 2022 um 14:02

    Ich habe die Geschichte gerne gelesen. Das mit der Waschschüssel im Bett kenne ich anders. Da die Matratzen dreiteilig waren, wurde die mittlere herausgenommen und schon war Platz für die Wasserschüssel.

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