Erinnerung an (m)einen Schicksalstag vor 60 Jahren

  • Erinnerung an (m)einen Schicksalstag vor 60 Jahren

     happyday antwortete vor 1 Jahr, 5 Monate 8 Teilnehmer · 27 Beiträge
  • happyday

    Teilnehmer
    13. August 2021 um 8:47

    Immer wieder mal zum Jahrestag des Mauerfalls werden Menschen gefragt, ob sie sich erinnern, wo sie waren, als die Mauer fiel. Auch ich bin mehrfach gefragt worden, ob ich mich an diesen Tag erinnere.

    Was mich noch nie jemand gefragt hat, ob ich noch weiß, wo ich zum Tag des Mauerbaus war. An jenem 13. August vor 60 Jahren.

    Es war Sommer und wir hatten Schulferien. Meine beste Freundin, ihre Zwillingsschwester und ich, wir hatten die achte Klasse beendet. Die nächsten vier Schuljahre würden wir in einer anderen Schule lernen, in einer neuen Klasse auf dem Gymnasium würden wir uns aufs Abitur und unserer berufliche Zukunft vorbereiten. Wir hatten nur eine vage Vorstellung, was uns auf dem Gymnasium am anderen Ende unserer Stadt erwartete. Doch eines war sicher, wir freuten uns darauf.

    Auch diesen Sommer, wie die drei Sommer davor, gab es für meine Eltern und mich keine Reise nach Hamburg. Der Gesundheitszustand meines Vaters war nach seinem schweren Unfall noch immer bedenklich.

    Fast täglich traf ich mich mit meiner Freundin und wir verbrachten die meiste Zeit im nahen gelegenen Schwimmbad. Anfang August fragte mich meine Freundin Edeltraud, ob ich Lust hätte, mit ihr und ihrer Schwester, sowie ihren Eltern zum Campingwochenende mit Paddelboot an die Talsperre Kriebstein zu fahren. Wenn ich mag, dann freue sie sich riesig, wenn ich dabei bin.

    Total aufgeregt lief ich heim und erzählte erst mal meinem Vater von der Einladung. Die Erlaubnis meiner Mutter zu bekommen, würde schwieriger werden. Mein Vater versprach mir, mit meiner Mutter zu reden.

    Dann war es soweit, das erste Mal durfte ich von Freitag bis Sonntag ganz allein, ohne den kritischen Kontrollblick meiner Mutter, weg fahren. Das längste Stück der Strecke fuhren wir mit einer Regionalbahn, dann weiter mit den Fahrrädern. Für mich war es wie die Vorahnung auf ein großes Abenteuer. Außer mit einem selbst gebauten Zelt aus Decken im eigenen Garten, hatte ich noch nie Camping erlebt. Auch im Paddelboot hatte ich noch nie gesessen. Gleich am Ankunftstag, nach dem Aufbau der Zelte, ließ meine Freundin das Faltboot ins Wasser und wir unternahmen unsere erst Paddeltour auf der Talsperre. Es fühlt sich an wie Freiheit pur. Einfach herrlich.

    Am Abend hielten wir Kartoffeln und Bratwürste ins Lagerfeuer und saßen noch lange in der lauen Sommernacht. Leise Musik klang aus dem Kassettenradio, wir wären noch ewig sitzen geblieben, wenn nicht die Eltern meiner Freundin uns ermahnt hätten, schlafen zu gehen. Am nächsten Morgen frühstückten wir vorm Zelt, dann ging es erneut mit dem Paddelboot ins Wasser. Später lagen wir im Gras und ließen wir uns von der Sonne verwöhnen. Abends saßen wir wieder lange vorm Zelt, erzählten uns Witze und stellten uns vor, was uns auf dem Gymnasium mit neuen MitschülerInnen erwarten wird. Im Zelt lachten und erzählten wir noch lange, bis wir erschöpft von dem zweiten Tag an frischer Luft einschliefen.

    Dann kam der Sonntag Morgen. Beim Frühstück hatten wir das Kofferradio an, plötzlich wurde die Musik unterbrochen für eine wichtige Mitteilung. Mir fiel das Brot aus der Hand als ich hörte, was ein Sprecher sagte. Ostberlin war durch eine Mauer von Westberlin abgetrennt. Im ganzen Land war die DDR vorm Westen durch eine Mauer geschützt, hieß es, dem “antiimperilistischen Schutzwall”.

    Mir war das Essen vergangen, sofort dachte ich an meinen Vater und an seinen Plan, mit uns doch noch nach Hamburg zu ziehen. Mir wurde übel. Im gleichen Moment wusste ich, dass ich mein Entsetzen gut verbergen musste. Die Eltern meiner Freundin waren beide Mitglied der SED und treue Genossen. Das ganze Gegenteil meiner Eltern. – Nach dem Frühstück wollten wir sowieso aufbrechen und nach Hause fahren.

    Mein Gefühl von Leichtigkeit und Freiheit, das Gefühl, alles ist möglich, das ich zwei Tage lang gespürt habe, war wie weg geblasen und einem Gefühl dumpfer Angst gewichen.

    Der “Durchbruch der Mauer” an der “East Side Gallery” in Berlin

  • Heide79

    Teilnehmer
    13. August 2021 um 9:48

    @happyday , guten Morgen! Ich erinnere mich noch gut an diesen Tag. Ich war in Westberlin und wollte elf Tage später heiraten. Der Bruder meines Mannes lebte mit Frau und zwei Kindern in Ostberlin und war natürlich eingeladen. Wir waren erschüttert und traurig über das Geschehen und konnten es kaum fassen. Unsere Hochzeit war dann kein frohes Fest. Sie fand zwar statt, weil lange geplant, aber in ziemlich gedrückter Stimmung und ohne meinen Schwager, der Westberlin, wo er aufgewachsen war, erst 28 Jahre später wiedersah. Liebe Grüße Heide

  • happyday

    Teilnehmer
    13. August 2021 um 10:34

    @Heide79 und @Syringia , danke für eure Beiträge und Erinnerung an dieses für so viele Menschen einschneidende Ereignis.

    Eure Fassungslosigkeit, liebe @Heide79 , kann ich sehr gut nachvollziehen. Gut auf jeden Fall, dass eure Hochzeit trotzdem statt fand.

    Den allermeisten Menschen, @Syringia ,ging es so, wie du es von den Berlinern beschrieben hast. Die allermeisten Menschen wünschten sich keine großen Reisen, es ging um dieses Gefühl des “Eingesperrt seins”, das Gefühl, selbst wenn ich wollte, ich darf nicht reisen. Und wenn die Verwandten nicht zu Besuch in die DDR kamen, dann war auch kein persönlicher Kontakt mehr möglich.

    Die Geschwister meines Vaters lebten in Hamburg und Westberlin. Alle habe ich als Kind kennen gelernt. Nicht bei uns in Sachsen, sondern in Berlin-Tempelhof und Hamburg.

    Dank meiner Kindheitserlebnisse in Hamburg ist der Kontakt zu meiner Cousine in Hamburg bis heute lebendig geblieben.

    LG happyday

  • Driftwood

    Teilnehmer
    13. August 2021 um 13:22

    @happyday Erst einmal: Vielen Dank dir, happyday! Es ist kein gewöhnlicher Freitag, der 13. Sicher – für Viele schon, doch blickt man auf die Seiten der Fernsehzeitschriften oder in die Tagespresse, liest man seit Tagen Geschichten aus diesen Tagen vor, am und nach dem 13.August vor 60 Jahren. Ich möchte auch ein paar Gedanken zu deinem und euren Beiträgen geben, obwohl sie etwas anderen Inhalts sind.

    Mein Vater war, als Rückkehrer aus russischer Gefangenschaft, ein Lehrer der ersten Stunde in der Nachkriegszeit. Er war, wie man heute sagen würde – ein Quereinsteiger. Er war ein Sportler – hoch dekoriert und erfolgreich, bis der Krieg sämtliche Pläne verbrannte und damit auch ihn veränderte. Was jedoch blieb, war sein unerschütterlicher Drang, aktiv zu bleiben und der heranwachsenden Jugend eine frohe Zukunft zu ermöglichen. Er wurde Sportlehrer, unterrichtete in Geografie und Werken. Nebenbei erwähnt hatte ich von der zweiten bis zur zehnten Klasse Sport bei ihm. Es hat zwar nicht geschadet aber lustig geht anders. Noch heute heilen die Wunden an den Schienbeinen nur schwerlich, welche ich mir zuzog, als ich den Harkestiel beim Weitsprung überwinden musste, um möglichst weit zu fliegen. Das half mir zwar bei der Spartakiade auf das Treppchen zu kommen, aber meine Kumpels hatten derweil so richtig Spaß und ganz woanders. Noch lieber mochte ich aber das Laufen, am liebsten das weglaufen.

    Mein Vater war bekannt und hatte seine Kontakte, ebenso zur Deutschen Reichsbahn der DDR in Berlin. Diese wiederum hatte ein betriebseigenes Ferienzeltlager in Thüringen. Bis nach Schleusingen war es jedes Jahr eine abenteuerliche Weltreise. Ihr wisst, wovon ich spreche – haben wir ja das Thema Zugreisen von einst schon erörtert. Ich war der Sohn des Lagerleiters, so wurde er, mein Vater – auch ohne Zweideutigkeit, immer betitelt. Es gab Morgenappelle mit hissen einer Flagge, die heute ohne dem Kreisrund weht, Ausflüge in die nähere Umgebung und eine Menge “Gemeinsinn” für die Kinder der Eisenbahner. Und ich; ich hatte eine Sonderstellung, was mir nicht nur bloß gefiel, ich habe es auch ausgenutzt. Wenn ich an die vielen rührseligen jungen Betreuerinnen der Kinder denke, ach könnte ich nochmal Kind sein. Doch daran kann ich mich nur entsinnen, als ich schon eigenverantwortlich Blödsinn machen konnte.

    Ich war zweieinhalb Jahre an jenem 13.August, als ein kleiner spitzbärtiger Mann der Lüge überführt wurde weil er mal ganz offen behauptete: “Niemand hat die Absicht eine Mauer zu errichten”. In jenem Sommer, so erzählten mir meine Eltern waren plötzlich die Ängste da ob der Kinder aus allen Teilen Berlins, die in ihren Zelten hockten und die Welt nicht mehr verstanden. Da waren all die Menschen, Erzieher, Betreuer, Küchenkräfte und selbst der Gärtner – die von der Wucht dieser Nachricht schier erschlagen wurden, und Angst sich ihren Weg in die Herzen bahnte. Da war auch die ganz persönliche Sorge meines Vaters, wie diese Situation für uns als Familie ausgehen wird. Der Bruder, mein Onkel war auch Lehrer, war nicht im Krieg und pendelte öfter zwischen dem Ost- und dem Westteil Berlins. Im Osten leben und arbeiten aber im Westen feiern und das Leben auf andere Art genießen. Würde er und seine Familie bleiben oder flüchten.

    An diesem Tag änderte sich die Geschichte für lange Zeit und wir alle waren in dieser Geschichte und sind es zum Teil noch immer. Ich kann mich nicht erinnern, wohl aber an so viele Dinge, die daraus entstanden und mich und euch prägten.

    Die erste wirkliche Erinnerung an ein weltoffenes Geschehnis für mich war, als John F. in einer offenen Limousine erschossen wurde. Immer wieder die gleichen Szenen jenes Augenblickes, die über der schwarz/weiß Fernseher liefen. Ähnlich, aber viel später, auch der Einsturz des Nordturms. All solche Momente, die sich in die Seele gebrannt haben und dort bleiben.

    Die Mauer ist weg, zumindest physisch. Vieles hat sich in der Zwischenzeit verwachsen, Einiges bleibt. Erinnern wir uns dieser Tage an diesen Tag und dessen Tragweite und finden unseren Frieden damit.

    Viele Grüße, Driftwood

  • happyday

    Teilnehmer
    13. August 2021 um 15:36

    @Driftwood

    Mein Dankeschön geht auch an dich, lieber Driftwood, für deinen Beitrag.

    Die ausführliche Schilderung deiner Kindheit hat mich sehr berührt und auch ein wenig Wehmut in mir aufkommen lassen. Warum Wehmut ? Ich versuche es zu erklären…

    Aufgewachsen bin ich mit meiner eher ruhigen Mutter und meinem oft auch sturen Hamburger Vater. Zu Hause hörte ich seine kompromisslosen Ansichten über die DDR und über “bei uns drüben”, was Hamburg und der “Westen” heißen sollte. Dann musste ich “umdenken”, oft genau das Gegenteil in der Schule und auch bei Freunden sagen. Auf diesem Drahtseil sollten Kinder nicht balancieren müssen.

    Oft habe ich mir gewünscht, in einer ganz “normalen”, sozialistischen Familie zu leben, wo ich nicht ständig das Gesicht “wechseln” muss.

    Hier ein Beispiel, das für sich spricht: Als ich in der achten Klasse war, wurde ich ausgewählt, zur Ausgabe der neuen Parteibücher im Patenbetrieb Klavier zu spielen. Da niemand außer mir in der Klasse Klavier spielte, musste ich ran. So weit so gut. – Doch das Lied, das ich auf dem Klavier begleiten sollte, war nicht für die Ohren meines Vaters bestimmt. Hier der Beginn vom Text: “Die Partei, die Partei, die hat immer recht…” Ohne zu üben ging es nicht, also musste ich üben, wenn mein Vater nicht daheim war. Meine Mutter stand dann “Schmiere” und warnte mich, wenn mein Vater in Sicht kam. Dann wechselte ich die Noten und übte Klassik.

    Ein weiteres Ereignis hatte mich wütend gemacht. Mein Vater war in der Kleinstadt als Kunstmaler bekannt. Von meiner Grundschule bekam er den Auftrag, jeweils die den Fenstern gegenüberliegenden Wände der Klassenzimmer mit einem Motiv zu bemalen. Mein Vater wählte Volkslieder und führte den Auftrag aus. Jeden Morgen freute ich mich, wenn ich eines der Zimmer betrat und die Malerei meines Vaters sah. –

    Eines Tages erhielt der zweite Kunstmaler der Kleinstadt, ein treuer Sozialist, den Auftrag, die Wandmalerei meines Vater zu beseitigen und die Wände neu zu gestalten. Das tat er umgehend. Von da an grüßten uns jeden Morgen neue Szenen des werktätigen Volkes. –

    Wie immer und gut geübt, schluckte ich meine Wut runter, zeigte sie niemanden, auch nicht meinen Freundinnen. Zu Hause habe ich in meinem Bett meine Wut und Enttäuschung in mein Kopfkissen geschluchzt.

    Ohne wenn und aber stimme ich dir zu, Driftwood. Erinnern wir uns, vergessen wir nicht, was geschehen ist, und finden wir unseren Frieden mit den Ereignissen.

    LG happyday


    Das Motiv eines der Wandbilder: “Kommt ein Vogel geflogen” – Qualität des Fotos ist mittelmäßig…


    • Dieser Beitrag wurde vor 2 Jahren, 7 Monate von  happyday bearbeitet.
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  • Driftwood

    Teilnehmer
    13. August 2021 um 16:03

    @happyday was für Geschichten und was für seelische Umwege wir gegangen sind. Danke für deine Offenheit, liebe happyday. Du hast diesen Drahtseilakt sehr gut beschrieben. Ich habe da auch noch so manche Geschichte aus der Schulzeit, die ich hinzufügen könnte. Mal sehen.

    Das Bild ist wunderschön und ein Teil von dir und deinem Leben.

    Viele Grüße, Driftwood

  • Mondin

    Teilnehmer
    13. August 2021 um 22:42

    Danke Happy und Driftwood für eure offenen Schilderungen. Ich bin weit im Westen aufgewachsen und verstehe nun wieder ein klein bisschen mehr, was Ossis und Wessis trennt. Eine so unterschiedliche Jugend und Kindheit kann man nicht vergessen und nicht nachempfinden. Ich denke, es lässt sich auch nicht verhindern, dass sie bis heute nachwirkt, auch wenn man sich mit ihr ausgesöhnt hat.

    Ich hatte schon sehr früh den Wunsch zu reisen, obwohl ich kein Geld dafür hatte. Mit 15 fuhr ich in den Ferien als Babysitter nach Frankreich. Mit 18 war ich wieder dort, als meine Gastgeber erzählten, dass die Mauer gebaut wurde. Sie befürchteten einen neuen Weltkrieg und wunderten sich, dass ich nicht sofort nach Hause fahren wollte. Ich habe weder den Ernst der Lage noch die Konsequenzen wirklich erfasst. Ich hatte und habe keine Verwandten dort, nur eine Brieffreundin, die mich und die ich ohnehin nicht besuchen konnte.

    So hat sich mir dieser Tag viel weniger stark eingeprägt.

    Mondin

  • happyday

    Teilnehmer
    14. August 2021 um 15:17

    @Driftwood und @Mondin

    Dankeschön, lieber Driftwood, dass du die Gedanken zu dem schwierigen Thema hier mit mir teilst. Danke auch an dich, liebe Mondin, von der “anderen Seite” der Mauer.

    Zwei der “Ideen” meines Vater, die mit dem Abstand von heute eher witzig anmuten, erzähle ich noch.

    Mein Sohn war fünf Jahre alt und im Kindergarten. Eines Tages wurde ich zum Gespräch der Leiterin des Kindergartens gebeten. Ein wenig beunruhigt war ich schon, hatte jedenfalls keine Ahnung, was mein kreativer Sohn angestellt haben könnte, dass ich zum Rapport musste.

    Wir waren allein im Büro der Leiterin und sie sagte zu mir: “Bitte, überprüfen Sie die Kontakte ihres Sohnes.” Ich verstand kein Wort und sagte es, “Ich verstehe nicht, was Sie meinen.” Sie: “Ihr Sohn klärt seine Kumpels darüber auf, dass früher China das größte Land war, heute ist es Russland, weil die Russen vielen anderen Ländern etwas geklaut haben.” – Mir war sofort klar, woher diese Aussage kam. Mein Vater…

    Als ich ihn zur rede stellen wollte, wurde er wütend und meinte: “Irgendwer muss den Jungen ja mal aufklären.”

    Mein Glück bei diesem Vorfall, die Leiterin des Kindergartens war die Ehefrau meines Mathematiklehrers vom Gymnasium. Und mit ihm bin ich gut ausgekommen. So hatte es für mich keine Konsequenzen.

    Noch nach seinem Tod hat mein Vater mir – indirekt – noch einen letzten Streich gespielt.

    Als ich mit Totenschein und Personalausweis den Tod meines Vater auf dem Standesamt melden wollte, erlebte ich einen mittleren Wutausbruch des Standesbeamten. Als er den Personalausweis meines Vaters durchblätterte, lief sein Gesicht plötzlich dunkelrot an, er warf mir den Ausweis vor die Füße und brüllt: “Was soll der Scheiß !” Ich hob den Ausweis wieder auf, legte ihn auf den Schreibtisch und fragte: “Wovon reden Sie ?” Er blätterte erneut den Ausweis durch und hielt ihn mir aufgeschlagen unter die Nase.

    Was ich dann las, dafür brauchte ich mein Jokerface und meine gesamte Selbstbeherrschung, um nicht loszuprusten vor Lachen.

    “Staatsbürgerschaft” DDR hatte mein Vater säuberlich mit rotem (!) Kugelschreiber durchgestrichen und darunter, auch in Rot, vermerkt:

    “Falsch, bin stets ein treuer Hamburger geblieben.”

    Leider bekam ich den Ausweis nicht zurück.

  • happyday

    Teilnehmer
    15. August 2021 um 10:20

    @lachegern

    Herzlichen Dank auch an dich, liebe lachegern, eine von “Drüben”, wie wir in der DDR es nannten. Es freut mich, dass meine “ungeschmickte” Erinnerung berührt und auch zum Schreiben animiert hat.

    Nochmals vielen Dank an euch, die ihr mit Beiträgen dieses Thema bereichert und ergänzt habt. LG happyday

  • Driftwood

    Teilnehmer
    16. August 2021 um 11:15

    @happyday @Mondin @lachegern Liebe happyday, Mondin und lachegern. Ja, es ist schon interessant, wie unterschiedlich wir diesen Tag und die daraus entstandenen Umstände erlebt und gelebt haben. Dein Vater, happayday hatte wirklich seine eigene Art für die damals herrschenden Bedingungen.

    Ich möchte noch eine kurze Geschichte hinzufügen, die sich als spätere Konsequenz aus dem Mauerbau für mich ergab.

    Nach dem Abitur und vor dem Studium musste ich noch zur NVA (Nationale Volks Armee), meinen Grundwehrdienst ableisten. Freude geht anders, doch dabei hatte ich noch Glück. Für gewöhnlich war eine Grundbedingung für ein späteres Studium, eine Dienstzeit von mindestens drei Jahren bei den bewaffneten Organen, wie es in unserer Sprache so schön hieß. Ich hatte aber schon meine feste Studienzusage in der Tasche und sie erlaubte nur einen Dienst an der Waffe, auch so ein schöner Termini, für 18 Monate, also Grundwehrdienst. Damals galt ein staatlich propagiertes Wohnungsbauprogramm, und das hatte scheinbar Vorrang vor dem “Langzeitschutz” über drei Jahre. Mein Ziel war Ingenieurhochbau zu studieren.

    Ich wurde, wie alle diensttauglichen jungen Männer, gemustert. Also prüften bekittelte Doktoren meinen Gesundheitszustand, befanden ihn für “wehrtauglich” und stellten fest, dass ich einen gewissen Sinn für Humor besaß, der diesen Herren nicht so gefiel. Physisch also als bereit abgestempelt, kam nunmehr die Bestimmung, an welcher Front ich unsere Errungenschaften verteidigen sollte. Genossen aus der Sparte “bewaffneter Betriebsschutz”, also Mitglieder von Kampfgruppen unserer Betriebe führten die Gespräche mit mir. Dabei schien für sie feststehend, das nur der Dienst an der Grenze das “Richtige” für mich wäre. Ich unterließ die Frage, ob es sich um die Schneefallgrenze, Baumgrenze oder Zaungrenze zum Nachbarn handeln sollte. Also, warum war das so klar für den grün-braun getarnten Genossen von der Drehmaschine aus dem Wälzlagerwerk? Ich war in der Schulzeit in einem Schützenverein. Auf 10 Meter Distanz traf ich einen Punkt, nicht größer als ein Stecknadelkopf – wenn auch nicht immer. Ich bestritt einige Meisterschaften mit recht gutem Erfolg. Da ich Linkshänder bin, ließ man für mich eine links geschäftete Waffe anfertigen – ein relativ teures Unterfangen. Später trat ich der GST bei, der Gesellschaft für Sport und Technik, das war während der Berufsausbildung mit Abitur, die drei Jahre dauerte. Und was denkt ihr, tat ich dort? Ich ließ es ordentlich knallen, größeres Kaliber, größere Entfernungen.

    Als der tarnbetuchte Genosse dies las, war klar, wohin ich in der Armee gehörte, mir allerdings nicht! Ich verriet ihm, dass es einen Unterschied ausmacht, ob man auf eine Pappscheibe ballert, oder womöglich einem Menschen in den Rücken schießen muss. An dieser Grenze gab es den Schießbefehl und einen Todesstreifen, daraus wurde kein Hehl gemacht. Ich schüttelte den Kopf, als er mich ultimativ fragte, ob ich die Flucht eines Staatsbürgers der DDR mit einem gezielten Schuss verhindern würde. Worte fand ich nicht.

    Was ich ihm vorenthielt war, dass es mein Cousin Jahre vorher vorzog, den wiederholten Versuchen, sich bei der Armee versetzen zu lassen, ein Ende breitete. Aus dem Urlaub kehrte er nicht mehr zu seinem Panzerregiment zurück. Stattdessen wurden ihm viele Ehrungen zuteil, sogar mit Salutschüssen. Ja, die Armee hat für ihre Kameraden viel übrig, sogar über den Tod hinaus.

    Ich brauchte schließlich nicht an der Grenze zum Kapitalismus unser Land verteidigen. Ich diente (welch ein schönes Wort für jemanden, der dennoch unter Waffen steht) bei der LSKLV. Unbekannt? Luftstreitkräfte Luftverteidigung. Man kann sich garnicht genug darunter vorstellen, wenn ungelenkte Luft-Boden Raketen auf Stahl treffen, gepaart mit heißer Erde und dicker Luft – wenn sie denn trafen, die Herrn Piloten. Die Ziele entsprachen nicht dem Feindbild, es waren alte Güterwagons, ausgediente Trafostationen oder kaputte Autos – also Autos, die auch nicht mehr fahren konnten. Mit den anderen kaputten Autos verteidigten wir die Werte des Sozialismus.

    So blieb der Wall, unser Schutz vor dem Imperialismus ohne mein Zutun sicher – mehr oder weniger, wie es die Geschichte zeigt.

    Nachdem ich mich von meiner Kalaschnikow, welche mir die NVA leihweise für 18 Monate überlassen hatte, – nachdem ich mich also verabschiedet hatte, gab ich den Schießsport komplett auf, und das war gut so.

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